Freitag, 6. April 2012

Mailand - Triest, September 2009

Im Tunnel nach Arth Goldau bleibt der Cisalpino stehen. Der Lokführer meldet sich per Lautsprecher mit den tröstlichen Worten, er wisse nicht, woran es liege, er könne leider auch nicht sagen, wie es lange es dauern werde, bis der Schaden behoben sei, aber wir sollten uns keine Sorgen machen und aus Sicherheitsgründen nicht aussteigen. Von Zeit zu Zeit bewegt sich der Zug ein paar Meter, um gleich wieder stehen zu bleiben. Dann löscht auch noch das Licht. Lesen geht also auch nicht. Irgendwann, ich habe nicht auf die Uhr geschaut, zieht die Lok ruckelnd wieder an, und als die schwarze Mauer direkt hinter dem Fensterglas eine erkennbare Struktur annimmt und wir schliesslich aus dem Tunnel fahren, bin ich erleichtert. Bald gewinnt der Zug volle Fahrt und rast nun immer schneller, in Mailand hat der Lokführer die Verspätung auf 20 Minuten verringert.

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Die Stazione Centrale ist anders, als ich sie im Kopf hatte: grösser, lauter, voller, hektischer, ohne die Atmosphäre, die mir meine Erinnerung aus der Jugendzeit all die Jahre vorgaukelte. Draussen regnet es und ist kalt und grau. Zum Taxistand gelange ich nur durch mehrere grosse, nicht zu umgehende Pfützen, der Taxifahrer zieht die Brauen hoch, das Hotel sei ganz in der Nähe, aber ich bestehe auf der Fahrt. Unterwegs kann sich das Auge an nichts erfreuen, die Stadt wirkt lieblos, ich fühle mich nicht wohl.

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Die Grösse des Doms ist einschüchternd. Der Regen verwischt den Blick auf die Fassade, ich setze mich lieber drinnen auf eine Bank und lasse den Raum auf mich wirken. Einmal mehr bin ich fasziniert, wie es möglich war, mit den damaligen Mitteln ein Bauwerk dieser Grösse zu schaffen. Unter unzähligen Opfern, die das einfache Volk dafür bezahlen musste. In Form von Abgaben und Steuern. Und in Form von Menschenopfern, die diese ehrgeizigen Bauprojekte forderten. Seit ich Ken Follets «Säulen der Erde» gelesen habe, kann ich in keine Kathedrale mehr eintreten, ohne daran zu denken. Zeugnisse der Macht und Unterdrückung, die wir heute als kulturelle Reichtümer feiern. Und doch. Sie sind es. Meine Wut verraucht regelmässig so schnell, wie sie aufkeimt. Es bleibt immer die Bewunderung.

Doch diesmal will sich dieses besondere Raumgefühl nicht einstellen. Das Monumentale erdrückt mich. Mag sein, dass ich einfach nur schlecht gelaunt bin. Im Reiseführer lese ich die Geschichte nach und ärgere mich über die langweiligen Aufzählungen von Daten und Namen. Nie steht ein Wort darüber, wie viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Nie lese ich etwas über deren Schicksale, über die Generationen von Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte für diese Bauwerke gelitten, gehungert und geschuftet haben, bis sie schliesslich bei der Arbeit verunfallt oder vor Erschöpfung krank geworden und gestorben sind, ohne das Ende des Baus zu erleben, der ihr ganzes Leben bestimmt hat.

Meine im Moment fast körperlich spürbare Abneigung gegenüber der Institution Kirche nimmt mir die Lust, noch länger hier zu verweilen. Der drittgrösste Dom der Welt erinnert mich gerade an die heutigen Tempel der Macht, die Grosskonzerne und Grossbanken, deren CEOs die Gunst der glücklichen Fügung als persönliches Verdienst in Anspruch nehmen und dafür Löhne und Boni kassieren, mit denen ganze Familien über Jahre ernährt werden könnten. Selbst die Finanzkrise hat daran nichts geändert. Ich bin sicher, würde man die unverdienten Boni und das ganze nachgeschmissene oder durch Korruption der Gesellschaft entzogene Geld auf einen Haufen zusammentragen, könnten der Hunger besiegt und allen Menschen die Bildung zugänglich gemacht werden, die wichtigste Voraussetzung für ein Leben in Würde. Die Religionsführer auf dieser Welt hätten die Macht, sich im Namen ihres jeweiligen Gottes dafür zu verwenden. Aber daran sind sie zwangsläufig nicht interessiert. Je aufgeklärter die Menschen, desto stärker schrumpft das Fundament, auf der die Kirche ihren Einfluss aufbaut.

Ich muss hier raus!

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Nachtrag 2020: Während der Corona-Krise war viel zu lesen, dass diese Erfahrung in den Menschen etwas bewirken würde. Dass sie sich wieder daran erinnern würden, wie alles zusammenhängt, wie sehr alle aufeinander angewiesen sind, wie nötig es ist, den Reichtum gerechter zu verteilen, und wie überlebensnotwenig es ist, ob und wie die Menschheit mit den grossen Herausforderungen der Zukunft fertig wird. Klimawandel ist da nur ein Stichwort von vielen. Es war zu lesen, dass die Krise eine Zäsur sei, welche die Menschen zum Denken, resp. zum Umdenken zwingen würde.

Ich glaube das nicht. Die Menschen werden sich anpassen, aber sie werden sich nicht grundsätzlich ändern. Sie werden weitermachen, bis die nächste Katastrophe kommt. Davon wird es viele weitere geben, immer mehr Menschen wird es existentiell treffen, aber es wird auch solche geben, die davon profitieren.

Vielleicht – sogar ziemlich sicher – wird sich die Menschheit irgendwann in ferner Zukunft selber auslöschen. Aussterben wie die Dinosaurier, aber selbstverschuldet. Der geschundene Planet wird sich erholen und weiterleben.

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Im Palazzo Reale erhole ich mich bei Monets Seerosen in allen Varianten, bis auch sie mir langsam auf den Geist gehen. Meine Stimmung bessert sich erst bei den «Voom Portraits» von Robert Wilson. Berühmte Leute wie Jeanne Moreau, Isabelle Huppert, Brad Pitt neben Unbekannten. Jede Person ist inszeniert, sie scheinen unbeweglich, nur die Lider oder ein Finger oder ein Luftstoss im Kleid verraten, dass es sich nicht um Fotografien handelt. Wilsons gefilmte Porträts sind inszenierter, spannender, überraschender, irritierender als Andy Warhols Promi-Galerie. (Jahre später hat Wilson Bellinis Norma im Opernhaus Zürich inszeniert. Optisch eine Sensation. Unglaublich schön. Allerdings mussten sich die Spielenden bewegen wie Marionetten, was ich nicht verstanden habe und was mich ausserordentlich gestört hat.)

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 Der Regen hat etwas nachgelassen, ich streune herum und fotografiere: die Fassade des Doms, die Galleria Vittorio Emanuele II, das Denkmal Leonardo da Vincis, für dessen Abendmahl die Zeit leider nicht reicht, die Scala, die noch geschlossen ist, ein paar Details in den Gassen. Die interessantesten Sujets wären die Menschen, aber sie zu fotografieren halte ich mich nicht dafür. Ich müsste sie ansprechen und fragen, aber das mag ich nicht, weil ich es ziemlich übergriffig fände. Mailand gefällt mir nicht, jedenfalls nicht das Mailand, das ich kenne, was zugegeben wenig ist, trotzdem möchte ich noch einmal in meinem Leben zurückkommen, um eine Oper in der Scala und Da Vincis Abendmahl zu besuchen. Und um die Häuser zu sehen, deren Fassaden aus ökologischen Gründen begrünt werden. Vielleicht eine Möglichkeit für die Städte der Zukunft, um in den klimabedingten Hitzeperioden noch bewohnbar zu bleiben.

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In der Galleria genehmige ich mir einen viel zu teuren Cappuccino, schaue den Leuten zu und bin beeindruckt, wie elegant die Menschen hier sind. Und schön. Frauen und Männer. Besonders die älteren Herren... Und während all diese geschmackvoll und teuer gekleideten Menschen mit dem Handy am Ohr und ohne sich umzusehen an mir vorbeieilen, scheint die Zeit für sie zu rasen, obwohl der Reiseführer von einer Flaniermeile spricht. Nur die Touristen unterbrechen diesen geschäftigen Strom. Sie sind unübersehbar, zu erkennen an ihrer Kleidung, an den Kameras, die sie zücken, um ein Foto für das Familienalbum zu schiessen, oder am suchenden Blick, mit dem sie einen Platz an einem der winzigen Tische in einem der überfüllten Restaurants zu ergattern hoffen, wo sie für die Spaghettis oder die Pizza das Doppelte bezahlen, als sie zwei Gassen weiter müssten. Aber dort ist es nicht so schön wie hier unter den riesigen Glaskuppeln. Nicht so edel. Irgendwie fühle ich mich plötzlich als Fremdkörper in diesen heiligen Hallen des Luxus. Müde. Hässlich. Schmutzig. Völlig deplatziert in meinen Jeans und Turnschuhen, der Regenjacke, dem ungeschminkten Gesicht, den von Wind und Regen zerzausten Haaren und dem kleinen Reiserucksack, der mich der Gruppe der wenig Zahlungskräftigen zuordnet.

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Die Fahrt von Mailand nach Triest beginnt verregnet, Bindfäden trüben die Sicht, auf dem Damm von Mestre verwischt sich am Horizont das grünlich-graue Wasser mit dem schwarzgrau verhangenen Himmel, das unruhige Meer wirft kleine spitze Schäumchen über einen Teppich von gleichmässigen Wellenhügeln, die sich schräg in eine Richtung bewegen. Durch das Tempo des Zuges entsteht der Eindruck, als ob der Wasserspiegel bereits auf die Höhe des Dammes gestiegen sei und ihn gleich überschwemmen würde.

Der Komfort in Italiens Zügen ist sehr hoch, aber der Komfort ist die eine Sache. Die Technik eine andere. Unterwegs bleibt auch dieser Zug stehen, so dass wir erst mit anderthalb Stunden Verspätung in Triest eintreffen. Das letzte Stück der Küste entlang zeigt, wie schön die Stadt liegt – in einer weit ausladenden Bucht am Fuss des hügeligen, mit Sträuchern und niederen Bäumen grün überwachsenen Karst-Geländes. Ab und zu ragt daraus eine Zypresse und kündet von milderem Klima.

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Selbst im Regen erscheint mir Triest als eine schöne Stadt, nicht sehr gross, aber sie lebt und pulsiert, ohne aufdringlich zu sein. Ich bin angenehm überrascht. Man kann sie relativ schnell «erwandern» und dabei immer wieder etwas entdecken, ohne sich zu verirren, weil die Strassen rechtwinklig zueinander verlaufen. Viele Häuser stammen aus dem 19. Jahrhundert, darunter Prachtbauten in klassizistischem Stil. Ich wohne im Hotel Duchi d'Aosta, einem alten, traditionellen Haus an der Piazza dell’Unità d’Italia, dem wohl schönsten Platz von Triest, verkehrsfrei, offen gegen das Meer, ein herrlicher, grosszügiger Ausblick. Das Zimmer ist günstig, aber entspricht dem gehobenen Standard des Hotels. Ein seltenes Schnäppchen, das ich über Booking.com gefunden habe.

Angenehm ist die vergleichsweise grosse Fussgängerzone, dafür quellen die anderen Strassen über mit Autos und Bussen. Triest ist voller Busse. Die Topografie lässt wohl keine grossen Alternativen zu. Unzählige Cafés und kleine Bars, aus denen teilweise (zu) laute Musik dröhnt. In einer dieser Bars, aus der gedämpfte Jazzmusik dringt, sitzen attraktive ältere Herren. Vielleicht kehre ich am späten Abend hierher zurück. Es gibt einen Typ Italiener, der im Alter immer besser aussieht. 

Nachts ist die Piazza dell’Unità schlicht fantastisch. Grosszügig in ihren Dimensionen, majestätische, von Scheinwerfern in dezentes Gelb gehüllte Fassaden, schön, ebenmässig, eine Wohltat für das Auge. Fünfarmige Kandelaber beleuchten den Platz, vom Boden her strahlen die kleinen ins Pflaster eingelassenen blauen Spots, an ihrer offenen Seite verschwindet die Piazza in den Lichtern am Horizont, die entlang beider Seiten eines langen Dammes ins dunkle Meer hinaus führen.

 

 

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