Bei einem Besuch am Checkpoint Charlie in Berlin wurde
mir wieder mal bewusst, mit welcher Härte und sektiererischen Verbissenheit das
DDR-Regime seinen sozialistischen Machtapparat einsetzte – gnadenlos bis zum
Schluss. Ich bewundere noch heute den Mut der Menschen, die für die Freiheit
ihr Leben riskiert und oft auch verloren haben. Und ich schäme mich für die Naivität,
mit der wir damals für eine idealisierte kommunistische Gesellschaft auf die
Strasse gingen, ohne auch nur die geringste Ahnung von der Realität zu haben. Wenn
jemand anderer Meinung war, fanden wir ihn dumm und rückständig und dachten,
wir wüssten es besser. Was mindestens genauso dumm war.
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Obwohl wir damals verblendet waren in unserem
idealistischen Eifer, die Welt zu verbessern, so hat diese Zeit – zumindest für
mich – trotzdem einen enormen Wert. Für mich war es eine Denkschule, ohne die
ich vielleicht nie gelernt hätte, die Dinge nicht nur aus der eigenen, sondern
auch aus einer gegenteiligen Perspektive zu analysieren. Ohne die ich womöglich
nie gezwungen gewesen wäre, meine Wertvorstellungen, mit denen ich aufgewachsen
bin, zu hinterfragen. Die 68er erweiterten meine Sicht auf die Welt. Dafür bin
ich sehr dankbar, auch wenn ich heute viele Ansichten nicht mehr teile.
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Die Langzeitfolgen des Zusammenbruchs des
DDR-Regimes, aber auch die Fehler, die der Westen nach der Wende gemacht hat, wirken
bis heute nach. Die Menschen mussten viel zu viel auf einmal verkraften, nicht
nur ihr marodes sozialistisches System ist praktisch über Nacht
zusammengebrochen, für viele auch der Glaube daran. Vom neuen, kapitalistischen,
das ihnen der Westen selbstherrlich aufgezwungen hat, profitierten nicht sie,
sondern in erster Linie die Investoren aus dem Westen. Die Demütigungen, die
Brüche in den Lebensläufen, die damit verbunden waren, gehören zweifellos mit
zu den Ursachen für die heutige Affinität des Ostens gegenüber der
rechtsextremen AfD. Es wäre zu einfach, diese Menschen zu verurteilen, schon
gar nicht aus der Sicht einer privilegierten Generation des Westens, die wir in
einer Zeit gelebt haben, in der es immer nur aufwärts ging. Aber genauso falsch
ist es, ihnen damit indirekt Recht zu geben, wie das manche Politikerinnen und
Politiker in ihrem Opportunismus tun. Denn die AfD ist eine rechtsextreme
Partei. Dagegen hilft nur die klare und eindeutige Gegenposition.
Eine gerechte Welt zu schaffen ist eine Illusion,
wie man irgendwann im Leben begreift. Trotzdem: Historisch gesehen war die
Kurve bisher tendenziell steigend, bei allen Rückschlägen.
Heute besteht die Gefahr, dass die Menschheit die
Grundlagen ihrer Existenz nachhaltig zerstört. Wir werden immer mehr Menschen auf
dieser Welt und verbrauchen immer mehr Ressourcen, Arbeitsplätze gehen verloren,
der Solidaritätsgedanke nimmt ab- und der Verteilkampf zu. Die Schere, nicht
nur zwischen arm und reich, auch zwischen Mittelstand und Superreichen, klafft schon
jetzt fast pervers weit auseinander, Natur und Umwelt leiden, das Klima
verändert sich. Die Folgen sind absehbar, werden aber aus dem Bewusstsein
verdrängt.
Zu glauben, es gebe eine bestimmte Ideologie als taugliches
Rezept, ob von rechts oder links oder von wo auch immer, womit die Probleme der
Zukunft zu lösen seien, ist eine Illusion. Ideologien funktionieren in der
Theorie, aber sie ignorieren den Faktor Mensch. Und oft auch ganz schlicht die
Realität.
Ich denke: Bei der Suche nach einer nachhaltigen
Strategie geht es primär um eine genaue, sachliche Definition des Problems und
um die Frage nach den für die jeweilige Lösung zuständigen Kompetenzbereiche,
also auch um das Auseinanderhalten von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Für mich ist klar: It’s the economy, stupid. Sie schafft die existenzsichernde
Grundlage, die Politik ist für den gesetzlichen Rahmen und für die Verteilung des
Mehrwerts zuständig. Je nach Wertesystem einer Gesellschaft ist diese
Verteilung gerechter oder weniger gerecht. Danach sollte man entscheiden und
handeln.
Wovon wir damals geträumt hatten, nämlich, dass
in einer demokratisch organisierten Gesellschaft die Politik das Primat vor der
Wirtschaft übernehmen könnte, ist eine idealistische Sichtweise. Wo die Politik
das Primat übernimmt entsteht eine staatlich gelenkte Wirtschaft. Allein schon
der Gedanke ist absurd in einer Demokratie. Eine Illusion ist es auch zu glauben,
dass eine staatlich gelenkte Wirtschaft besser in der Lage wäre, eine
gerechtere Welt zu schaffen. Wäre das so, wären alle Christen gute Menschen und
der Kommunismus hätte das Verteilproblem für alle Zeiten «gerecht» gelöst.
Theorien helfen mit, bestehende Systeme und ihre Denkmuster zu hinterfragen und
erfüllen damit eine wichtige Funktion auf der Suche nach einer nachhaltigen
Lösung. Diese kann aber nur auf dem pragmatischen Boden der Realität gefunden
werden.
Eine reale Gefahr für die Demokratien Europas
bedeutet das zunehmende geopolitische Machtstreben der Autokraten. Putin und
Erdogan sind reine Machtpolitiker, die nicht mit ethisch-moralischen Argumenten
zu überzeugen sind. Hier wird sich zeigen, ob Europa in der Lage sein wird,
einerseits als geeinte Wertegesellschaft zu bestehen und sich andererseits als selbstbewusster,
wirtschaftlicher und politischer Machtfaktor ins Spiel zu bringen.
Ich denke: Die Welt verändert sich immer
schneller, und um die Herausforderungen der Zukunft zu lösen, braucht es
zweifellos mehr politische Weitsicht und neue Denkansätze, wie sie
beispielsweise der französische Ökonom Thomas Piketty beschreibt. Bis jedoch die
politische Basis für die Umsetzung geschaffen ist, vergehen voraussichtlich
noch Jahrzehnte. Es sei denn, eine weltweite Katastrophe zwingt zu schnellerem
Handeln. Corona reicht dazu nicht, wie wir jetzt schon wissen. Auch wenn die
Verwerfungen dieser Pandemie noch sehr lange dauern und ihre weltweiten
Nachwirkungen vermutlich sehr viel dramatischer sein werden, als es im Moment
aussieht.
So sehe ich das.