Sonntag, 24. Mai 2020

Schweiz-Europa: Bilateraler Weg oder Beitritt?

Dass ein einzelnes Land die Herausforderungen der Zukunft nicht mehr allein lösen kann, ist eine unbestrittene Tatsache. Und dass im heutigen geopolitischen Umfeld mit den Grossmächten China, Russland und USA ein starkes Europa immer wichtiger wird, scheint mir ebenfalls logisch, auch wenn gewisse politische Parteien und Gruppierungen aus machttaktischen oder weniger nachvollziehbaren oder auch gänzlich verabscheuungswürdigen Gründen den Nationalismus als Allerheilmittel gegen alle Unbill dieser Welt aus der Mottenkiste gezogen haben.

Die Schweiz liegt als kleines Land mitten in Europa. Europa ist nicht nur der wichtigste Handelspartner der Schweiz, wir sind auch durch zahlreiche Verträge eng mit Europa verflochten und haben unsere Gesetze entsprechend angepasst. Ohne Europa ist die Schweiz gar nicht mehr denkbar. Sie war es nie. Ein Beitritt wäre also durchaus denkbar.

Der bilaterale Weg hat sich bisher als explizit schweizerische Lösung bewährt. Eine überwältigende Mehrheit der Schweizer Bevölkerung möchte, dass dies auch so bleibt und ist – vehement – gegen einen Beitritt. Will, soll, kann man das überhaupt umkehren? Gewisse politische Parteien und Gruppieren rufen vermehrt wieder dazu auf. Ich kann die Argumentationen zwar nachvollziehen, allerdings ohne dabei gleich euphorisch zu werden. Vorher stellen sich mir nämlich viele – nach wie vor unbeantwortete – Fragen:

Die ganz grosse Frage ist und bleibt: Kann Europa sich reformieren? Kann Europa demokratischer werden? Wenn ja, kann die EU dies glaubwürdig genug umsetzen, so, dass die Bevölkerungen wieder mehr Vertrauen in diese Institution fassen? 

Es steht ausser Zweifel, dass die meisten, wenn nicht alle Länder von der Mitgliedschaft in der EU profitieren. Auch Deutschland, dessen Bevölkerung sich immer darüber beklagt, sie müsste am meisten dafür bezahlen. In Tat und Wahrheit profitiert auch Deutschland in hohem Masse. Fakt ist aber auch: Es gibt nach wie vor das Gefälle Nord-Süd, es gibt diejenigen die stärker zur Kasse gebeten werden, und es gibt die gebeutelten. Dies zu beschönigen, wäre falsch.

Man kann das Projekt Europa aus altruistischer Sicht beurteilen, welche die Solidarität in den Mittelpunkt stellt, eine Solidarität, die dafür sorgt, dass die reicheren Länder den ärmeren helfen und die Stärkeren den Schwächeren. Europa als demokratisch organisierte Wertegesellschaft. Gerade diejenigen unter den PolitikerInnen, die sich zur christlichen Kultur bekennen, müssten diese Perspektive eigentlich vehement verteidigen.

Man kann das Projekt EU aber genauso gut aus einer vollkommen egoistischen Sicht betrachten. Europa als erfolgreiches Wirtschaftsprojekt. Wenn auch mit Rückschlägen und mit wiederkehrenden und langwierigen Problemen, deren Lösung manchmal unmöglich scheint, weil die Multilateralität ein komplexes System ist, das auszutarieren oft ein Ding der Unmöglichkeit scheint. Trotzdem: Alles in allem haben bisher alle profitiert.

Nur wer vollkommen ideologisch verblendet oder aber naiv und dumm genug ist, glaubt, ein nationalstaatlich organisiertes Europa sei die bessere, zukunftstauglichere Lösung. Fakt ist: Ohne die europäische Zusammenarbeit wäre auch bei uns in der Schweiz vieles nicht möglich gewesen, einen grossen Teil unseres Wohlstandes verdanken wir unter anderem der engen Zusammenarbeit mit der EU. Diese wird künftig noch wichtiger werden, wenn es darum geht, die grossen Herausforderungen der Zukunft zu meistern.

Welches ist also der bessere Weg für die Schweiz? Beitritt oder Beibehalten des bilateralen Wegs mit seinen ständigen Anpassungen samt den dafür notwenigen, zähflüssigen, schwierigen, langwierigen und nervenaufreibenden bilateralen Verhandlungen?  

Der entscheidende Punkt dabei ist für mich die Frage: Bleibt die EU weiterhin das Erfolgsprojekt, das sie zweifellos war und ist, oder führen ihre internen Differenzen langfristig zu ihrem Zusammenbruch?

Fragen dazu:

Wird Deutschland, dessen wirtschaftspolitischen Vorstellungen die Finanzpolitik Europas prägen, seine Dominanz zugunsten einer Solidarisierung in Europa aufgeben?

Macron will eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik, er will sie «europäisieren», resp. die Kompetenzen aus den Ländern in die europäischen Institutionen verlagern. Ist das realistisch?

Ausserdem: Kann die EU verhindern, dass Länder wie Ungarn die gemeinsame Politik sabotieren?

Das politische System Europas ist zwar ähnlich, wie in vielen ihrer demokratisch organisierten Mitgliedsländern. Aber in einigen Punkten eben doch ganz anders. So frage ich mich beispielsweise, wie die Macht in Europa tatsächlich funktioniert. Wer ist in der Entscheidungskette am einflussreichsten: die europäische Kommission und ihr Präsident, der europäische Rat, resp. die Regierungschefs, die den Präsidenten des europäischen Rats stellen, der Ministerrat, resp. die nationalen Regierungen, die ihre mandatierten Minister in den Ministerrat entsenden, das Europaparlament? Oder sind es am Ende gar die Lobbyisten im Hintergrund, wie das Robert Menasse in seinem Buch «Die Hauptstadt» beschrieben hat? 

In den vergangenen Jahren hat der Einfluss des Europaparlaments zwar zugenommen, aber von einer unabhängigen Legislative zu sprechen, wäre wohl stark übertrieben. Für mich hat es etwas Sinnbildliches, dass das Parlament in Strassburg tagt, weit weg von Brüssel… Aber bereits bei dieser Frage kommen sich Frankreich und Deutschland in die Quere. Wie sehr sich die beiden Länder, die eigentlich zusammengehen müssten, immer stärker voneinander entfernen, zeigen auch die Differenzen, die sich abzeichnen, wenn es um die dringend notwendigen Reformen geht, die Macron in seinem Papier aufgelistet hat. Gibt es die Idee Europa überhaupt noch? Oder ist Europa bloss noch ein Wirtschaftsunion ohne politische Vision? 

Wie muss Europa künftig organisiert sein, damit es nicht wieder auseinanderfällt? Damit die Machtteilung demokratischer wird? Auch im Sinne der Bevölkerungen kleiner Länder, die - was die Gesetzgebung betrifft - kaum Einfluss nehmen können, denn die grossen Staaten sind auch mit grossen Mehrheiten im Parlament vertreten. 

Es sind viele – berechtigte – Fragen, die auftauchen. Bei aller Sympathie für Europa. 

Ich teile die Meinung, die auch Gret Haller vertritt, nämlich, dass Europa von der Schweiz lernen könnte. Aber ich stelle in allen Gesprächen –auch hier in der Schweiz – immer wieder fest, dass die ganz grosse Mehrheit im restlichen Europa dieses System entweder nicht versteht oder nicht verstehen will. Dass die direkte Demokratie ein komplexes Regelwerk ist, wissen die wenigsten, und wie gründlich sie missverstanden werden kann, zeigt der Brexit, wo aus einer Volksbefragung ein verbindliches Prebiszit gemacht wurde, nur weil ehrgeizige PolitikerInnen das so wollten. Und dies, obwohl nicht einmal diese Politiker wussten, worauf sie sich damit einlassen. Und jetzt sind sie unfähig, Kompromisse zu schliessen. Das zeugt nicht von einem hochentwickelten demokratischen Verständnis. 

Auch grundsätzliche Fragen tauchen im Zusammenhang mit Europa auf. Wie kann man die Unterscheidung zwischen Nation und Nationalität gegenüber Nationalismus deutlicher machen, ohne gleich missverstanden zu werden? Wie kann man Identität definieren, ohne dass daraus eine religiöse oder ethnische «Blutsfrage» wird? Wie kann man das von den Populisten so verpönte Wort Multikulturalität wieder in ein positives Bild verwandeln, als eine der grössten Bereicherungen der Menschheit? Wie muss man in einer zunehmend individualisierten Welt argumentieren, damit das Verständnis für Gemeinsamkeit und Solidarität wieder an Achtung gewinnt? Und schliesslich: Wie lernt man Freiheit und Verantwortung (mit Betonung auf «und»), die es für das Funktionieren einer Demokratie zwingend braucht? 

Und schliesslich: Welche Zukunftsvision soll man entwerfen unter dem Aspekt des Klimawandels, der Fortentwicklung der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz und des damit sich komplett verändernden Arbeitsmarktes, resp. des dafür erforderlichen Bildungssystems? Wie müssen die verantwortlichen Regierungen Europa auf diese längst absehbaren, zukunftsrelevanten Herausforderungen reagieren? Welches politische System braucht es, um sowohl die Anforderungen der Wirtschaft als auch die sozialen Bedürfnisse zu befriedigen? Braucht es neue Formen, um sowohl die Finanzierung als auch die Verteilung zu organisieren? Stichwort bedingungsloses Grundeinkommen? Braucht es neue, noch gar nicht existierende Systeme? Ist das überhaupt möglich, solange parteipolitische und/oder einzelne Landesinteressen stärker im Vordergrund stehen als das Wohl des Gesamten? 

Verteidiger Europas sagen, dass es kaum Verlierer gibt in Europa. Das scheint mir doch etwas schöngefärbt. Es bringt die Sache weiter, wenn man realistisch bleibt. Das langfristige Ziel eines Beitritts scheint mir sinnvoll, aber nur, wenn man bei dabei die Glaubwürdigkeit gegenüber der Bevölkerung nicht verliert.  

Mai 2019