Sonntag, 8. April 2012

Tessin, Oktober 2008

Seit einem Monat bin ich pensioniert. Der Vorsatz, nach der Pensionierung zu reisen, ist nicht besonders originell, ich weiss. Ausserdem ein ökologischer Blödsinn. Es sei denn, man geht zu Fuss oder fährt per Velo in Grüne. Wir wissen es alle: Der Tourismus, insbesondere der Massentourismus, ist letztlich eine Katastrophe für diesen Planeten. Andererseits gibt es Länder, deren Wirtschaft ohne den Tourismus implodieren würde, deren Menschen ohne die Arbeitsplätze, die der Tourismus schafft, kein Einkommen mehr hätten. Ein unlösbares Dilemma.

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Mein erster Ausflug in die neu gewonnene Freiheit ist nicht geplant, sondern eine spontane Entscheidung. Ich fahre ins Tessin. Einfach so. Ohne besonderen Grund.

Der Zug von Zürich über Bern nach Brig ist überfüllt. Schlimmer noch: voll alter Leute, die genauso aussehen und ununterbrochen reden, was niemand hören will. Im Eurocity von Brig nach Domodossola sind die Reisenden leise, bis auf die vier Rentner im Abteil hinter mir, sie sprechen Berndeutsch und sind schon wieder die lautesten und nervigsten. Oder empfinde nur ich das so? Bin ich zu intolerant? Bin ich genauso spiessig? Ich weiss, dass ich auch zu laut rede, wenn ich mich vergesse. Taxiere ich sie deshalb so ungnädig, weil ich auf keinen Fall will, dass man mir ansieht, in Rente, also eine von ihnen zu sein?

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Als wild-romantisch wird das Centovalli gepriesen, aber ich bin enttäuscht, wahrscheinlich habe ich mehr erwartet. Schön, zumindest in meinen Augen, ist eigentlich nur der Teil, wo das Tal etwas offener ist, vor der Schweizer Grenze in Camedo. Immerhin weiss ich jetzt, wie die kleinen Dörfer aussehen, die nur noch aus einer Ansammlung von Häusern bestehen und romantisch verklärt werden, obwohl dort zu leben wesentlich schwieriger sein dürfte, als es sich die Schwärmer vorstellen.

Im Fotoalbum meiner Mutter gibt es ein Bild mit der ganzen Familie – mein Vater, meine Mutter, meine beiden Brüder und ich, als ich etwa sechs oder sieben war – beim Baden in der Melezza. An die Melezza und das Centovalli hatte ich keine Erinnerung mehr, nur noch, dass meine Brüder mir Angst vor Schlangen eingejagt haben.

Deutlicher als das Centovalli mit der Melezza habe ich das Verzascatal als Bild meiner Kindheit in Erinnerung. Vielleicht auch nur, weil man es häufiger abgebildet sieht. Zuhinterst, in Sonogno, begleitet Walter zurzeit den Umbau eines Hauses. Er ist gestern mit dem Auto dorthin gefahren und will morgen wieder zurück in Zürich sein. Er hat mich gefragt, ob ich mitfahren will. Aber ich sagte ihm, dass ich lieber allein reise.

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Alleinreisen hat Vorteile. Ich sehe mehr. Zum einen, weil ich nicht abgelenkt bin durch ein Gespräch, das mich vom Schauen abhält, zum andern, weil niemand meine Aufmerksamkeit beansprucht. Allein kann ich meinem eigenen Rhythmus folgen, kann stehen bleiben, wo ich will, weitergehen, wann ich will. Und ich brauche meine Energie nicht zum Reden. Es reicht mir vollends, mich mit meinem Italienisch durchzuschlagen, im Laden etwas zu kaufen, mich nach der Buslinie zu erkundigen, zu fragen, wo der nächste Bancomat zu finden ist, im Restaurant mein Trinken und Essen zu bestellen. Ausserdem: Nur wenn ich allein reise, schreibe ich.

Frei sein! Lust zu leben! Wow! In dieser Intensität habe ich es lange nicht mehr gespürt!

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Auf einem einsamen Rastplatz auf dem Panoramaweg oberhalb der Alpe Foppa geniesse ich die Aussicht, die Luft, den Geruch des Grases, die Stille, ich schliesse die Augen, atme tief ein und lasse alle Eindrücke gleichzeitig auf mich wirken. Aber die Idylle trügt. Unmittelbar vorgelagert ist das Ausflugsrestaurant mit den Spielplätzen, eben ist ein Helikopter gelandet und hat die Stille zerrissen.

Vor mir liegt die Cappella Santa Maria degli Angeli von Mario Botta. Ein eindrückliches Bauwerk: trutzig, stolz, es erinnert an eine Festung. Aber sie passt zum Berg, zur Natur, zur Umgebung. Obwohl sie so mächtig ist, wirkt sie harmonisch, das Material stimmt, die Farben, die Form. Ich bin kein Botta-Fan. Manches von ihm gefällt mir, anderes nicht. Aber ich glaube, er hat hier seine Wurzeln und seinen Ausdruck gefunden.

Ein Freund in jungen Jahren, ein angehender Architekt, verstieg sich damals zu der Aussage, die Architektur sei die höchste aller Kunstformen. Ich weiss nicht, ob er Recht hat. Vielleicht. Historisch betrachtet sind es tatsächlich die Schlösser, Tempel, Kirchen und Moscheen, die heute zu den wichtigen Kulturgütern gehören, auch wenn sie nicht in erster Linie als Zeugnisse von Kunst und Kultur entstanden sind, sondern als Symbole der staatlichen und der kirchlichen Macht. Erst seit der Moderne ist nicht mehr der Auftraggeber die entscheidende Referenz, sondern die Handschrift eines Architekten, die ein Gebäude auszeichnet. Auch eine Art Demokratisierung.

Die Alpe Foppa ist Ausgangspunkt für Biker, Gleitschirmflieger, die mit dem Heli hochgeflogen werden, Walker, Sonnenbadende, Wanderer, das Restaurant ist voll mit Familien, die alle Sprachen sprechen. Ein lärmiges Getümmel, das so gar nicht zu Bottas Kapelle passt. Eine Beleidigung für das Auge ist der Kinderspielplatz, vorfabrizierte Elemente aus künstlichem Material, grüner Turnhallenboden, Rutschen in durchsichtigen Plastikrohren, das Ganze eingezäunt mit Plastikband. Das Metall der Rodelbahn, eine an den Hang geklebte Achterbahn, blendet in der Sonne, kreischende Jugendliche sausen in rasendem Tempo nach unten. Macht Spass. Ich kann es ja verstehen. Aber muss es genau hier sein, an diesem schönen Ort?

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Lugano, Gran Café al Porto: Hübsches Kaffee, Eingang mit Vordach, im Innern plüschig, alte, geschnitzte Kassettendecke, grosse Auslage mit Leckereien, denen ich widerstehe. Ich sitze draussen an einem der vier kleinen Tische, nasche von Zeit zu Zeit von den Mandeln, die ich mir im Coop erstanden habe, und schaue den vorbeigehenden Menschen zu, darunter einige Luganesi, zur Hauptsache aber Schweizerdeutsch und Hochdeutsch sprechende Passanten. Ach, diese Touristen! Eben kommt eine Gruppe vorbei, einer ruft den Anderen laut auf Berndeutsch zu, lue mau, Gran Café heisst's hie!… So, so.

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Das (alte) Museo d'Arte (das MASI gab es damals noch nicht) öffnet um 10 Uhr, mir bleibt noch etwas Zeit. Unter meinen Füssen raschelt das gefallene Laub der Platanen, es ist neblig und beginnt vielleicht schon bald zu regnen. Während ich warte, schaue ich ins Wasser. Das Ufer wurde renaturiert, mit Baumstrünken und Reisigbündel, um die Fische wieder anzusiedeln. Offensichtlich mit Erfolg, ich sehe, wie sie aus dem Wasser springen und wieder eintauchen.

Der Museumsbesuch hat sich gelohnt. Interessante Ausstellung mit Fotografien aus allen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die älteste Aufnahme stammt sogar aus dem Jahr 1894, ein Porträt von Aubrey Beardsley, dessen elegant-erotische Kunst als Plakate in meiner Altstadtbude in Bern gehangen haben. Auf drei Stockwerken zeigt die Ausstellung Themenbilder, Porträts aus Politik und Kultur, Aktbilder, Bildreportagen, Landschafts- und Städtebilder, Architekturaufnahmen und Bilder von Modefotografen, das meiste schwarz-weiss. Bei den Porträts viele bekannte Gesichter: Truman Capote, Picasso, Chagall, Käthe Kollwitz und viele andere. Unter den Fotografen Namen wie Man Ray oder Karl Lagerfeld, dessen künstlerisch wunderschönen Modeaufnahmen mich überraschen. Ich wusste nicht, dass er auch fotografiert hat.

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Im Zug nach Bellinzona sitzen im Abteil neben mir junge Leute und lernen. Sie sehen konzentriert, ernsthaft und sympathisch aus. Er liest, sie hat ein Buch vor sich und das geöffnete Schreibetui, worin die farbigen Stabilos liegen, mit denen sie einzelne Abschnitte im Buch anstreicht. Dazu macht sie Notizen auf ein Blatt. Draussen ist dichter Nebel. Ich bin auf der Heimreise, will aber in Bellinzona aussteigen, trotz plötzlichem Schwächeanfall, meine Hände zittern, mein Herz macht Sprünge und ich fühle mich müde und etwas schwindlig.

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Bellinzona ist keine besonders schöne Stadt. Eine zwischen zwei Hügelzügen eingezwängte Talsperre, wozu sie ja auch gedacht war, mit ein paar hübschen Plätzen und Ecken.

Der gezeigte Film über die Entstehungsgeschichte der Burg ist für meinen Geschmack etwas zu ambitiös und manieriert. Eine stringentere, sachlichere Information und etwas weniger künstlerisches Beigemüse wären eingängiger. Im Schlosshof befindet sich die Ausstellung eines Eisenplastikers. Pferde, Krieger und Kreuzigungen. Ich empfinde sie als Kitsch.

Aufschlussreich war für mich zu erfahren, dass die Münzanstalt von Bellinzona die Geldstücke für halb Europa prägte, und dass die Innerschweizer es waren, die Bellinzona eroberten und dem Duca di Milano abnahmen. Sicher hatte ich das einmal in der Schule gelernt, aber wieder vergessen. Aber damals war der Geschichtsunterricht noch etwas vom Langweiligsten überhaupt. Wir mussten vor allem Jahrzahlen und die Namen der Mächtigen und der Schlachten auswendig lernen, was wir nach der Prüfung natürlich postwendend wieder vergassen. Jedenfalls ich. Eine Vorstellung, wie die Leute gelebt haben, also ein lebendiges Bild der jeweiligen Zeit, wurde uns nicht vermittelt. Ich gehe davon aus, dass das heute anders ist.

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Dass Geschichte nicht langweilig sein muss, habe ich zum ersten Mal erfahren, als ich vor vielen Jahren Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit gelesen habe. Da habe ich begriffen, wie wertvoll das Storytelling ist. Zum einen als eine handwerkliche Technik des Geschichtenerzählens, wie sie auch im Journalismus genutzt wird, zum andern als die perfekte Geschichtsvermittlung, genauso wie die Historienfilme, wenn sie sorgfältig recherchiert und gut gemacht sind. Wunderbares Beispiel dazu ist die Fernsehserie Downton Abbey. Solche Filme dienen der Allgemeinbildung, genauso wie die so genannte Trivialliteratur. Bestes Beispiel dazu sind die Romane Ken Follets, die im elitären deutschen Literaturbetrieb nicht geschätzt sind, obwohl der Historiker seine Romane anhand minutiös recherchierter Fakten entwirft und so die Vergangenheit zur erlebbaren Geschichte werden lässt. Spannend und lesbar für alle. Kultur, die sich nicht nur im elitären Bildungsmilieu abspielt, sondern für alle zugänglich gemachtes Wissen. Das hat ganz direkt mit Demokratie zu tun.

 

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