Samstag, 7. April 2012

Berlin, April 2009

Ich sitze auf einer kleinen Bank am Landwehrkanal und lausche einer Gruppe von Musikern auf der anderen Kanalseite. Schwer zu sagen, woher sie kommen, vermutlich Mittelamerika, ihre Musik ist rhythmisch, eine Art Reggae, begleitet von diesem typisch machistischen Gesang. Es ist romantisch hier, viel Grün, ein Markt vis-à-vis, junge Menschen, die auf der Ufermauer sonnen, vor mir ein Weg aus hellem Kies, Menschen, die vorbei flanieren oder joggen, ab und zu ein Velofahrer, auf der Bank neben mir zwei Schwarze, die sich angeregt unterhalten.

Zum ersten Mal allein. Gestern Abend bin ich nach der Landung direkt nach Kreuzberg gefahren, wo ich wohnen darf, bei Robert und Kati, in einer schönen Altbauwohnung mit hohen Räumen und einem grosszügigen Entrée, zwei quadratischen Zimmern mit Parkettböden, mit Wohnküche, Bad und einer distinguierten Katze mit einem dicken grauen Fell, die nachts auf meiner Bettdecke geschlafen hat.

Robert hat in der Wohnung auf mich gewartet und ist mit mir in eine Pizzeria auf der anderen Kanalseite gegangen, über eine alte Bogenbrücke, auf der die jungen Leute in Gruppen auf dem Boden sassen, ab und zu entstand spontan eine Jam-Session. Die Stimmung da war absolut super.

Kreuzberg: Der Stadtteil ist bekannt für seine Multikulturalität, hier zeigt sich, dass die Menschen im Grunde genommen überall gleich sind, egal, welcher Kultur sie angehören. Es ist keine Frage der Ethnie oder der Hautfarbe, sondern eine Frage des Zugangs zu Bildung und Chancengleichheit. Wir sind alle Menschen, gute und weniger gute, intelligente und weniger intelligente, schöne und weniger schöne. Menschen sind Menschen sind Menschen. Punkt. Biologisch gibt es keine Rassen, es gibt nur die unterschiedliche geografische, kulturelle, soziale Herkunft. Aussenseiter haben genauso unterschiedliche Wurzeln, wie die Mehrheit, die hier friedlich mit- und nebeneinander lebt. Jede grosse Metropole könnte den Beweis liefern, dass das Zusammenleben funktioniert, vorausgesetzt, die Menschen wollen es. Verhindert wird es durch die von Politik oder Religion oder tiefsitzenden, von Generation zu Generation weitergereichten Vorurteilen beeinflusste Sozialisation. Ich weiss, ich weiss, das schreibt sich so daher. Trotzdem: Denkbar ist grundsätzlich alles. Würde die Vernunft regieren, wäre (fast) alles möglich. Sogar der Weltfriede. Leider nur theoretisch. Denn die Menschen sind irrational. Alle. Mehr oder weniger. Auch ich. Auch wenn ich selbstverständlich von mir selber annehme, ich sei ein besonders rational denkender Mensch.

Es gefällt mir hier, jedenfalls da, wo ich gerade bin, am Paul Lincke-Ufer, ich glaube, ich könnte mich hier wohlfühlen. Manche der Häuser hier am Kanal haben den Krieg überlebt, sie erinnern mich an den Jugendstil, ich bin aber nicht ganz sicher.

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Als Erstes ist Robert heute morgen mit mir zum Alexanderplatz gefahren, den ich bisher immer mit Döblin in Verbindung gebracht habe, sein Roman war Pflichtlektüre in der Buchhändlerschule. Meine Vorstellung war eine völlig andere, noch aus der Zeit, die ich von alten Fotos kenne. Robert zeigte mir von der Aussichtsplattform des Fernsehturms, wo ungefähr die Teilung in Ost und West durchging, danach fuhren wir mit der Strassenbahn zum Hackeschen Markt. Im ersten, unbestritten schönsten der Hackeschen Höfe haben wir gegessen, mit Blick auf die wirklich sensationellen Fassaden – diesmal bin ich sicher, dass es sich um Jugendstil handelt.

Robert ging dann weiter und ich sah mich im Quartier um, Bilder davon habe ich im Kopf, aber keine Ahnung, wo genau und was das war, ich bin einfach nur rumgelaufen. Zurück fuhr ich mit der U-Bahn und war froh, dass es sie gibt. Aufgefallen sind mir die Fahrradstreifen und die vielen Velofahrer, beinahe vorbildlich, aber im Gegensatz zu Zürich ist Berlin ja auch fast überall flach und die Strassen sind breit.

Jetzt muss ich in die Wohnung zurück, um zu duschen und mich umzuziehen, wir werden die Audrey Hepburn Gedenkausstellung im Berliner Hauptbahnhof besuchen. Darauf bin ich gespannt. Ich liebe die Filme mit ihr. Sie war eine ganz ausserordentliche Frau, eine hervorragende Schauspielerin, die Ernstes genauso gut spielte wie Komödiantisches, sie war schön und intelligent, engagiert und stark, obwohl sie so zerbrechlich wirkte.

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Dritter Tag: Museumsviertel, Bebelplatz, Gendarmenmarkt,
abends Jazzkonzert

Museumsinsel: Ich wusste nicht, wie riesig die alle sind, das Alte und das Neue Museum, die Alte Nationalgalerie, das Bode- und das Pergamonmuseum, so viel Geschichte und Kunst an einem Ort, das ist nicht an einem Tag und auch nicht in einer Woche zu bewältigen, also habe ich nur kurz hineingeschaut und schliesslich ein Ticket für das Neue Museum gekauft, was ich mir hätte sparen können, weil es noch im Umbau war und nur zum Teil öffentlich zugänglich. Jedenfalls habe ich weder die Nofretete noch die Troja-Sammlung Schliemanns mit dem Schatz des Priamos gesehen, wovon ich gelesen und was mich am meisten interessiert hätte, obwohl diese Schätze eigentlich gar nicht hierher gehören, sondern genau genommen geklaut sind und von der Rücksichtslosigkeit zeugen, mit der die Archäologen einst in kolonialherrschaftlicher Manier alles abtransportiert haben, womit sie sich zu Hause brüsten konnten.

Berliner Schloss: Neben dem Berliner Dom klaffte eine riesige Baugrube, wo das Berliner Schloss in alter Pracht wiederaufgebaut werden sollte. Man sagte mir, 2013 würde es fertiggestellt sein, im Nachhinein lese ich heute, dass 2013 erst die Grundsteinlegung erfolgte und es danach viele Verzögerungen gab, dass die Bauzeit sehr viel länger dauerte als geplant, nicht zuletzt, weil der angegliederte moderne Bau des Humboldt-Forums äusserst umstritten war.

Bebelplatz: Warum man die Alte Bibliothek «Kommode» nennt, ist mir nach wie vor ein Rätsel (Wikipedia gibt mir darüber keinen Aufschluss), vielleicht weil sie von weitem ein bisschen wie eine Barockkommode aussieht.

Gendarmenplatz: Konzerthaus in der Mitte, eingerahmt vom Deutschen und dem Französischen Dom, die mit ihren barocken Kuppeltürmen zumindest äusserlich identisch aussehen und sich sozusagen gleichberechtigt gegenüberstehen. Dazwischen der respektheischende Schiller, womit wieder klar ist, wer hier das Sagen hat und den französischen Hugenotten bloss Gastrecht gewährt.

Jazzkonzert am Abend mit Katis Saxophon Quartett clair-obscur: Vor dem Jazzkonzert assen wir an einem Stand eine Currywurst, laut Robert die beste von Berlin, was ich natürlich weder bestätigen noch bestreiten konnte, denn es war meine erste. Das Konzert danach war vom Feinsten. Es gab kein gedrucktes Programm, nur die mündliche Ansage, deshalb weiss ich nicht mehr, was alles gespielt wurde, nur dass es mich an Coltrane erinnerte, an John Cage und Philip Glass.

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Vierter Tag: Ku’damm, Käthe Kollwitz-Museum, Berliner Zoo

Zu den Musts beim ersten Berlin-Besuch gehört selbstverständlich der Ku’damm mit dem Hohlen Zahn. Letztlich eine Enttäuschung. Der Hohle Zahn ist ein mahnender Zeitzeuge, keine Überraschung, der Kurfürstendamm mit seinen meist sehr eleganten Geschäften austauschbar, eine Strasse, wie es sie in allen grossen Städten gibt. Ich kaufte mir ein Eis an einem Mövenpickstand und suchte auf der Karte das Käthe Kollwitz-Museum, von dem ich wusste, dass es ganz in der Nähe lag.

Eine gute Entscheidung. Als einziger Gast konnte ich mir in aller Ruhe die meist düsteren, aber eindrücklichen Bilder, Zeichnungen und Plastiken ansehen. Ich erfuhr, dass Kollwitz aus Königsberg stammt, genau wie meine Grossmutter, die die Tochter eines Kutschers war und dort aufwuchs, als Königsberg noch eine schöne ostpreussische Stadt gewesen sein muss, bevor die Sowjets sie in Kaliningrad umtauften und sie mit hässlichen, sozialistischen Bauten verunstalteten.

Im lauschigen Gartenrestaurant nebenan machte ich meine erste Pause, ass eine Kleinigkeit und notierte in Stichworten meine Gedanken und Assoziationen. Es war Mittagszeit und ich hatte das Bedürfnis nach etwas Entspannendem, also entschloss ich mich, statt nach Charlottenburg, wie Robert mir geraten hatte, mit der U-Bahn zurück bis zum Zoo zu fahren.

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Ich liebe Zoos. Ich könnte den Tieren stundenlang zusehen, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Den einen, weil sie so niedlich sind, wie die Erdmännchen, oder so tolpatschig, wie die Pinguine, so schön und respektheischend, wie der Amurtiger, so sozial wie Wölfe oder Elefanten, so intelligent und verspielt wie Delphine, so elegant wie ein Gepard, so lustig wie Schimpansen, so bunt wie Papageien, so vielfältig wie Fische, so hässlich wie der Nacktmull. Ein unterschätztes Tier, das der Wissenschaft zu Studienzwecken dient, weil es in grossen Kolonien in so genannter Eusozialität lebt, das heisst, mit einer strengen, hochspezialisierten Arbeitsteilung, die an das Lebensalter des einzelnen Individuums gebunden ist.

Nur Schlangen mag ich nicht. Meine Phobie habe ich behalten seit damals, im Vivarium des Berner Tierparks Dählhölzli, als mein Vater mir schilderte, wie die Riesenschlangen ihre Beute erwürgen, wie sie ihren Kiefer aushängen, um das Maul darüberzustülpen, wie das manchmal noch lebende Opfer mit den Muskeln nach hinten geschoben und dabei von den Magensäften verdaut wird, oder wie die Giftschlange blitzschnell zuschlägt und ihr Opfer tötet, bevor dieses überhaupt eine Chance hat zu fliehen. Ich konnte danach nicht einmal mehr ein Buch ansehen, wenn darin eine Schlange abgebildet war.

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Welche Tiere ich alles im Berliner Zoo gesehen habe, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, ich weiss aber noch, wie wohl ich mich dort gefühlt habe. Das Areal ist sehr schön angelegt, mit viel Grün, mit schattenspendenden Bäumen und hübschen Teichen. Obwohl das Wetter sonnig und für den April viel zu warm war, hielt sich der Besucherstrom in Grenzen, ich konnte ungehindert flanieren und ab und zu stehen bleiben, um den Tieren zuzuschauen, was nicht nur ein angenehmer, sondern auch äusserst spannender und unterhaltsamer Zeitvertreib ist. Nach und nach lernt man die Tiere und ihre individuellen Eigenheiten kennen. Sie sind genauso unterschiedlich wie die Menschen, haben ihre Marotten, ihre eigenen sozialen Regeln und Rangordnungen, sie töten auch, aber im Gegensatz zu den Menschen tun sie das nicht mit Absicht, sondern nur aus dem Instinkt zu überleben.

Abends war ich mit einer Bekannten verabredet, sie wohnte am Prenzlauer Berg, ich fuhr durch die ehemalige Ostzone bis zum Ostkreuz und von da zur Prenzlauer Allee, wo sie auf mich wartete. Sie wollte mit mir in ein Tangolokal, ich hatte gerade damit begonnen, sie dagegen war ein Profi, die an Milongas in ganz Europa reiste. Der Abend wurde ein Flop. Sie war hier zu Hause, kannte die Leute, war aufgekratzt, ich dagegen war ein Holzklotz, fühlte mich im falschen Film und war viel zu gehemmt, als dass ich mich getraute hätte, mit jemand Unbekanntem den anspruchsvollen Tango Argentino zu tanzen.

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Fünfter Tag: Checkpoint Charlie, Regierungsviertel, Brandenburger Tor, Holocaust-Mahnmal

Checkpoint Charlie: Ich nahm mir die Zeit, um die ganze Ereignisabfolge an den Plakatwänden zu studieren (ob das damals nur eine vorübergehende Ausstellung war oder ob es heute immer noch so aussieht, weiss ich natürlich nicht). Mir wurde wieder mal bewusst, mit welcher Härte und sektiererischen Verbissenheit das DDR-Regime seinen sozialistischen Machtapparat einsetzte – gnadenlos bis zum Schluss. Ich bewundere noch heute den Mut der Menschen, die für die Freiheit ihr Leben riskiert und oft auch verloren haben. Und ich schäme mich für die Naivität, mit der wir damals für eine idealisierte kommunistische Gesellschaft auf die Strasse gingen, ohne auch nur die geringste Ahnung von der Realität zu haben. Wenn jemand anderer Meinung war, fanden wir ihn dumm und rückständig und dachten, wir wüssten es besser. Was mindestens genauso dumm war.

Regierungsviertel mit Reichstag, Kanzleramt und Bundestag: Für einen Aufstieg zur Kuppel war mir die Zeit zu schade, aber ich wollte wenigstens einen Blick auf die Schweizer Botschaft werfen, deren Anbau zu reden gab (hierzulande weniger als das Glamour-Paar Borer), und deren Gebäude wichtigtuerisch mitten im Deutschen Regierungsviertel steht, als ob die Schweiz bei der  deutschen Politik etwas mitzureden hätte.

Pariser Platz: Mit der Neugestaltung des vom Krieg komplett zerstörten Quarrées beim Brandenburger Tor konnte ich mich nicht anfreunden. Die Gebäude bilden kein einheitliches Ganzes mehr, wie ich es von früheren Abbildungen kannte. Die amerikanische und die französische Botschaft wirkten auf mich penetrant präsent, fast noch wie Siegermächte, Kennedys «Ick bin ein Berliner» fiel mir ein, er war mein Held, als er starb, war ich 17 und allein vor dem Fernseher, als meine Eltern spät nach Hause kamen, empfing ich sie tränenüberströmt.

Hotel Adlon: Davon hatte ich bis da noch nie gehört. Wie legendär es ist, weiss ich erst seit der gleichnamigen Familiensaga, die 2013 als Fernsehserie verfilmt wurde, und deren Fortsetzungen ich immer mit Spannung erwartet habe.

Holocaust-Mahnmal: Für mich das Eindrücklichste, was ich in Berlin gesehen habe, sowohl das Museum als auch das Mahnmal selber, die Steinquader erinnerten mich an einen jüdischen Friedhof, was vermutlich die Absicht dahinter ist, aufgereihte Grabsteine, endlos, im Sonnenlicht bedrohliche Schatten werfend. Im Museum darunter, im Raum mit den im Boden eingelassenen Dokumenten der Opfer, las ich einen Abschiedsbrief eines kleinen Mädchens an seinen Vater, den es angesichts seines sicheren Todes kurz davor noch geschrieben hat. Als Journalistin bin ich ja ziemlich hartgesotten, aber in diesem Brief konzentrierte sich die Tragödie so eindringlich, dass ich mich hinsetzen musste und die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.

Danach brauchte ich frische Luft und ging im Tiergarten spazieren. Ohne einen Park oder einen Wald in der Nähe, könnte ich es in keiner Stadt aushalten. Sie sind nicht nur die Sauerstoff-Lunge, sie sind auch die idealen Entstresser. Nichts ist beruhigender, nichts ist geeigneter, den Gedanken freien Lauf zu lassen, meine besten Ideen fallen mir beim Spazieren im Wald zu.

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Es war das einzige und voraussichtlich letzte Mal, dass ich in Berlin war. Falls ich nochmals allein reise, dann zuerst nach Rom.

Rom kenne ich nur vom Anflug, aus der Zeit, als ich bei der Swissair war. Nach der Landung blieben wir an Bord und flogen nach einem kurzen Aufenthalt weiter, ich weiss noch, wie wir Stewardessen, wie wir damals hiessen, die weiblichen Passagiere vor dem Betreten der Kabine abtasten mussten, weil es vorher zu einer Serie von Flugzeugattentaten gekommen war. Bei mir hätten sie problemlos ganze Sprengstoffladungen schmuggeln können, ich habe immer nur die Seiten abgetastet, ich hätte den Frauen nicht zwischen die Beine greifen können, ich fand das furchtbar.

Einmal haben wir in Rom übernachtet, es war kein regulärer Flug, den Anlass dafür weiss ich nicht mehr. Eine unserer Kolleginnen hatte unseren Aufenthalt bei einem ihrer Bekannten angekündigt, offenbar war das ein sehr begüterter Mann, ein in Rom lebender Florentiner, jedenfalls lud er die ganze Crew in ein florentinisches Restaurant ein. Es muss eine grosse Besatzung gewesen sein, ich sehe uns noch an einer langen Tafel, wo uns ein 20gängiges Mahl aufgetischt wurde, die grösste «Bouffe» meines Lebens. Danach dachte ich, ich müsste sterben. Wie heisst es doch? Rom sehen und sterben? Oder war es Neapel?

 

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