Montag, 9. April 2012

Paris, Juni 2009

Ich dachte immer, der neue Flughafen Kloten sei kompliziert, aber im Vergleich zu Charles de Gaulle ist er ein Musterbeispiel durchgeplanter Logistik. Zur Strafe, dass ich geflogen bin, nur weil es billiger war, dauerte es gestern fast drei Stunden, insgesamt länger, als mit dem Zug, bis ich in der Rue de l’Université war, im Studio eines Freundes, wo ich eine Woche lang gratis wohnen darf.

Unterwegs in die Stadt fielen mir die Häuserfassaden auf, ich hatte vergessen, wie schön Paris ist. Seine Eleganz bleibt unübertroffen. Die Kehrseite allerdings auch. Die Wohnsilos am Stadtrand sind in teils erbärmlichem Zustand und von einer solch penetranten Hässlichkeit, dass nicht nur die Stadt, sondern das ganze Land sich dafür schämen müsste. Man muss die Qualität eines Staates daran messen, wie er mit seiner mittellosen Bevölkerung umgeht.

*

Ich sitze in der Brasserie Aux P.T.T. an der Rue Cler, die sich in der Nähe des Studios befindet. Die Rue Cler wird so etwas wie meine Heimat sein in den nächsten Tagen, ein Mekka für frische Lebensmittel, wo ein schöner Früchtestand sich an den nächsten noch schöneren Gemüsestand reiht, dazwischen die Bäckereien, Metzgereien, Traiteurs und die Bistros, die nicht fehlen dürfen, alle mit dem besonderen Flair der grossen Pariser Cafés, aber einfacher und von den Leuten des Quartiers frequentiert. Der Kellner bringt mir einen perfekten Cappuccino, der Charme der Brasserie inspiriert mich zum Schreiben.

Einen genauen Plan für die paar Tage habe ich nicht, aber ich weiss schon, was ich weglassen werde: die Sacré-Coeur und den Montmartre sowieso, aber auch die Défense, den Bois de Boulogne, den Jardin du Luxembourg, Montparnasse, die Place de la République, natürlich Versailles, den Louvre und noch so vieles mehr, was mein Mann Res und ich abgeklappert haben, als wir eine Woche zusammen hier waren.

Gegen Mittag, im Café de la Paix

Ins Café an der Place de l'Opéra führte mich die Nostalgie, weil mir das noble Lokal in Erinnerung geblieben ist, seit ich das erste Mal mit meinen Eltern hier war, das nächste Mal mit meiner Schulkollegin Steffi, da waren wir beide knapp 18 und durften nur nach Paris fahren, weil wir bei entfernten Verwandten der Schwester meiner Mutter übernachteten, bei Leuten, die ich nicht einmal kannte, in einem bescheidenen Häuschen in Versailles, das war die Bedingung, sonst hätten unsere Eltern uns niemals gehen lassen.

Das de la Paix hat sich nicht verändert, es ist noch genauso elegant, genauso teuer, und die Kellner sind noch genauso arrogant. Ein Déjà-vu, eines von vielen auf dem Weg hierher. Als ob die Zeit vergangen und gleichzeitig stillgestanden wäre.

Frische Baguettes: Sie duften aus den Bäckereien und erinnern mich an Langres, wo ich sie jeden Morgen holte, frisch aus dem Ofen der Bäckerei, die nur ein paar Schritte vom Haus entfernt lag. Die Schweizer backen wunderbare Brote. Aber die Franzosen sind die unübertroffenen Meister der Baguettes. Daran zu riechen, ein Stück abzubrechen und in die knusprige Rinde zu beissen… einfach himmlisch!

Pont Alexandre III: Mein Weg für die nächsten paar Tage, Kulisse für die Hochzeitspaare, die sich genau hier fotografieren lassen, weil der Eiffelturm den passenden Hintergrund dazu abgibt. Ort für unvergessliche Filmszenen.

Die Métro: Ich liebe sie. Über 100 Jahre alt und noch immer das schnellste Fortbewegungsmittel. Einfach und praktisch. Es macht Spass, sich in diesem riesigen Labyrinth so leicht zurechtzufinden. Die gekachelten Wände mit den Plakaten, dann und wann ein Musiker, der sich in der warmen Abluft der Bahntunnels einen kleinen Zustupf verdient. Jedes Mal, wenn ich einen sehe, denke ich an Robert, der immer Münzen dabeihatte, um sie diesen Kollegen zu geben, viele davon seien ausgezeichnete Musiker, bloss in einer prekären Situation, weshalb man sie oft falsch einschätze.

Mir fällt auf, wie sauber Paris heute ist, anders als früher. Überall stehen einfache Metallständer mit Ringen, über die Abfallsäcke gestülpt werden, die laufend geleert werden, ein einfaches, aber offensichtlich effizientes System. Jedenfalls sehe ich hier nicht so viel Dreck herumliegen wie in Zürich. Oft sind es die Jugendlichen, die alles einfach fallen und liegen lassen. Weil niemand mehr sie in die Pflicht nimmt? Weil für sie alles selbstverständlich geworden ist, auch dass jemand – heisst, der Staat – hinter ihnen aufräumt? Ich gebe zu, ich stosse ich mich daran. Bin ich im Alter spiessig geworden?

Früher Nachmittag, in der Notre-Dame

Ich gerate in eine Messe oder was auch immer das um diese Zeit sein könnte. Der Priester singt mehr schlecht als recht die Liturgie. Ohne seine schüttere Stimme im Vordergrund wäre die leise Begleitung sehr viel besser hörbar, eine schöne Sopranstimme, die durch die Kirche trägt. Die Touristen schlendern derweil herum, gehen mit erhobener Kamera an den Seitenaltären vorbei, knipsen und blitzen, was das Zeug hält, schwatzen hemmungslos. Ich fasse es nicht. Sie sind nicht einmal während einer Messe in der Lage, ihren Mund zu halten. Das stört selbst mich, die ich nicht gläubig bin und mir das Ritual fremd ist. Wenigstens etwas leiser dürften sie sein, aus Respekt vor den Menschen, die hier sitzen und vielleicht Trost suchen.

*

Nachmittag, Île St.-Louis

 

Hier war ich noch nie. Der Reiseführer beschreibt die Insel als architektonisches Gesamtbauwerk. Mag sein, mir bleibt es verborgen. Längs der Strasse, welche die kleine Insel schnurgerade in zwei Hälften teilt, haben viele der restaurierten Häuser glatte, gegipste Fassaden, aus denen Fenster ohne Fassungen und ohne Läden wie Löcher starren. Die Moderne über die Vergangenheit gepflastert. Zweckmässig. Geistlos. Ohne jeden Charme.

 

Auf meinem Streifzug entdecke ich eine Knabenschule, in Frankreich gibt es das noch, eine dieser écoles de garçons befindet sich offenbar hier auf der Insel, jedenfalls ist sie so angeschrieben, und auf dem Pausenhof sehe ich tatsächlich nur Buben spielen. Ich frage mich, ob diese physische Separation sich auch geistig auswirkt und auf das Verhalten dieser Knaben gegenüber dem anderen Geschlecht im späteren Leben einen Einfluss hat.

Ich habe Hunger und versuche es mit dem italienischen Restaurant, weil ich keine Lust auf eine der lieblosen französischen «plats» habe, mit denen die Touristen hier abgespeist werden. Das Lokal ist überklimatisiert, das Interieur deprimierend, und die Kellner sind genauso unhöflich und arrogant, aber das Carpaccio ist frisch geschnitten, der Parmesan frisch gehobelt, die Basilikumblätter frisch gepflückt, der Salat und die Salatsauce - französisch, nicht italienisch – leicht und bekömmlich, dazu leise Jazzmusik. Der Espresso schmeckt besser als der viel zu starke, bittere französische café noir.

Gegenüber auf dem Trottoir sitzt ein graumelierter Hund mit spitzen Ohren und kurzer, spitzer Schnauze und lässt es offensichtlich erlösend fliessen. Dabei schaut er so einfältig drein, dass ich laut lachen muss. Ob Menschen auch so doof aussehen, wenn sie es endlich loslassen können?

Das Dessert nehme ich im Berthillon, das ein bisschen aussieht wie eine Pralinenschachtel, wo es angeblich das beste Eis gibt, jedenfalls stehen sie im Laden nebenan Schlange. Es ist kühl, ich nehme lieber die Tartelette de pomme. Sie ist köstlich. Neben mir sitzen vier sympathische, blutjunge Japanerinnen mit ihren flachen, breiten Gesichtchen und schwatzen tapfer Französisch zusammen. Sicher sind sie hier für einen Sprachaufenthalt. Ich frage sie auf Englisch, sie nicken kichernd und halten verschämt die Hand vor den Mund.

In einem Hotel am Quai wird jemand auf einer Bahre aus dem 6. Stock geholt. 3 Feuerwehrwagen mit 6 Feuerwehrmännern, 1 Kran, 2 Polizeiautos, 2 Motorräder, 2 Sanitätswagen mit 4 Sanitätern, die Polizisten habe ich nicht gezählt. Als die Bahre im Krankenwagen verschwindet, fährt dieser nicht gleich ab. Ist die Person schon tot? Ich höre, wie sie von «victime» sprechen. Bin ich gerade an einem Verbrechen vorbeigekommen?

Donnerstagmorgen, in der Brasserie Aux P.T.T., Rue Cler

Auf meinem gestrigen Nachhauseweg von der Île St.-Louis über die Île de la Cité zur Métrostation Châtelet, machte ich einen kleinen Abstecher zur Sainte-Chapelle und kaufte dort ganz spontan eine Karte für ein Klavierrezital noch am selben Abend.

Die Sainte-Chapelle, dieses Wunderwerk abends zu erleben, wenn die Kerzen im Widerschein der farbigen Fensterscheiben eine märchenhaft verzauberte Stimmung erzeugen, das war fast schon überirdisch schön. Ganz im Gegensatz zu der in grossen Worten angekündigten Pianistin, die Bach, Liszt, Schumann und Chopin spielte, als ob sie alle Beethoven hiessen, dabei ihren Fuss nicht vom Pedal kriegte und die Musik zu Brei vermanschte. Dazu die schlechte Akustik. Ich habe ziemlich gelitten. Am Schluss war ich die einzige, die nicht geklatscht hat. Nicht einmal aus Höflichkeit.

Am Nachmittag, auf einer Bank an der Place des Vosges

Es zieht mich immer wieder hierher zurück. Jedes Mal träume ich davon, wie es wäre, hier zu leben, schon als Res und ich im Pavillon de la Reine logierten, das Fünfsternehotel haben wir uns geleistet, weil es an diesem Platz liegt, obwohl die Preise weit über unserem Budget lagen. Unser Zimmer war vermutlich das billigste, das sie haben, es war eng, das Fenster schmal, die Aussicht auf den Hof bestand aus der gegenüberliegenden grauen Mauer. Aber egal, wir waren mitten in der Stadt, am schönsten Platz von Paris. Im Café Bourgeois assen wir unser Frühstück, café au lait, brioches und croissants, nicht weit vom Ambroisie, eines der damals angesagtesten Gourmet-Lokale. Vielleicht ist es das immer noch. Res wollte unbedingt einmal dort essen, er war ein begnadeter Hobbykoch, der zu Hause die Gerichte ohne Rezept nachkochte, manchmal besser als das Original. Aber wir hätten mindestens ein halbes Jahr vorreservieren müssen, als Trost verriet uns der Hotelportier, uns Schweizer hätte man eingelassen, für Amerikaner dagegen sei das Lokal grundsätzlich immer ausgebucht, weil diese Barbaren Coca Cola statt Wein zum Fleischgang bestellten, die Todsünde aller Feinschmecker.

So schön und elegant Paris ist, so abweisend sind seine Bewohner. Als ob die Anziehungskraft der Stadt ihnen gleichzeitig den Reflex verliehe, sich den Mob, der da täglich einfällt, vom Leibe zu halten. Ich kann sie sogar verstehen.  Und ich kann verstehen, wenn jemand die Pariserinnen und Pariser nicht mag.

 

*

 

Musée d’Art moderne: Die Sammlung hatte ich mir interessanter vorgestellt, viel habe ich nicht gesehen, was mir gefallen hätte, auch wenn ich natürlich weiss, dass es in der Kunst um etwas anderes geht, als ums Gefallen. Ist alles neu Erschaffene Kunst? Ist Kunst überschätzt, kann jeder Kunst, wie Marcel Duchamps sagt? Wenn er Recht hätte, müsste das auch für die Literatur zutreffen? Oder für die Musik? Es fällt mir schwer, die Aussage in ihrer ganzen Konsequenz nachzuvollziehen.

 

Eigentlich hatte ich noch vorgehabt, einen Blick ins nahe Musée de la Mode im Palais Galliera zu werfen, aber es war geschlossen. Auf meinem Weg zum Trocadéro ass ich eine Kleinigkeit und wollte dann zu Fuss zum Eiffelturm und von dort nach Hause, doch dann stieg ich spontan in die Métro und fuhr zurück hierher, auf eine Bank an meinen Lieblingsplatz in Paris, wo ich mich mehr zu Hause fühle als im engen Studio von Dayadi.

Freitagmittag, im La Brise Miche, beim Centre Pompidou

Der Brunnen von Jean Tinguely und Nikki de St. Phalle lockt viele Kinder an, die hier spielen, ein schönes Bild, irgendwie passend, farbig und verspielt ist auch der Brunnen. Ich sitze im Schatten der Bäume, zuvorderst auf der Terrasse des Brise Miche, und schaue zu, mit dem unregelmässigen Geplätscher der Springbrunnen und dem Stimmengewirr um mich herum.

In Paris gibt es einige kaum zu überbietende architektonische Scheusslichkeiten, das Centre Pompidou gehörte für mich bisher dazu. Nun muss ich mein Vorurteil revidieren, einmal drin, eröffneten sich mir zum Teil atemberaubende Ausblicke. Atemberaubend, im wahrsten Sinne des Wortes, ist auch die permanente Ausstellung, es verschlägt einem den Atem ob so viel versammelter Kunst an einem Ort. Ich war schlicht überfordert. Jedes Stockwerk könnte sein eigenes kleines Museum füllen.

Wieder waren es die Pioniere des 20. Jahrhunderts, die mich am meisten faszinierten, ganz besonders Magritte, schon immer einer meiner Favoriten, aber auch ein paar Frauen, die mir weniger bekannt sind. (Warum kennt man die Männer besser als die Frauen? Weil es mehr sind, oder weil man die vergessenen Frauen erst seit wenigen Jahren ans Licht holt?) Einmal mehr stellt sich mir die Frage, was wahre Kunst ausmacht. Ich vermute, das wichtigste Kriterium - neben der vorausgesetzten Könnerschaft – ist die authentische Unverkennbarkeit.

Samstagmorgen, in der Brasserie Aux P.T.T., Rue Cler

Sie kennen mich hier schon. Der Kellner bringt mir meinen Cappucino und mein Croissant an den Tisch, ohne vorher zu fragen. Fast wie zu Hause im Toto.

Gestern bin ich noch eine Weile in Châtelet-Les Halles herumgelaufen, es ist interessant, was dort entstanden ist, aber mir waren die alten Markthallen lieber, die ich damals mit Steffi noch erlebt habe. Nostalgische Erinnerung an unwiederbringlich Vergangenes. Zum Glück gibt es sie anderswo noch, diese unglaublich schönen Markthallen mit ihrem ganz besonderen Flair, die so typisch sind für Frankreich.

Samstagabend, im Café Flore

Meinen Schlummertrunk genehmige ich mir im Flore. Da wollte ich schon immer mal rein. Als Steffi und ich hier waren, sassen wir draussen an einem der Tischchen, die damals noch auf dem Trottoir standen. Jetzt ist es drinnen leer, fast ein bisschen trist, nur die Fotos von Berühmtheiten erinnern an die Epoche, von der das Flore noch heute zehrt. Aber die Zeit jetzt ist eine andere. Vielleicht bin ich auch nur müde. Ich sitze vor meinem Glas Wein und fasse den Tag zusammen:

Andy Warhol im Grand Palais: Ich war früh da und bin gut durchgekommen, aber habe mich nicht allzu lange in der Ausstellung aufgehalten. Es waren hauptsächlich Bilder, die alle Welt kennt. Bei den Porträts habe ich an meinen Schwager Bendicht gedacht, der nie so berühmt geworden ist wie Warhol, obwohl er die gleiche Idee hatte mit den prominenten Persönlichkeiten, noch vor Warhol, nur dass er diese nicht persönlich gekannt, sondern ihr Abbild anhand eines Fotos geschaffen hat. Das Besondere an Bendichts Bildern war aber nicht das Porträt selber, sondern die aufwändige Netztechnik. Wie genau er sie machte, weiss ich nicht, aber die Porträts sahen von weitem ähnlich aus, wie eine Radierung. Wenn man sich davor bewegte, bewegte sich auch das Bild leicht mit. Eines dieser Netzbilder, die Jacky Kennedy, fand ich schlicht genial. Wo sie jetzt hängt, weiss ich leider nicht.

Champs-Élysées: Das kleine Plätzchen erinnert mich an den Film, den ich mindestens viermal gesehen habe, mit Audrey Hepburn und Cary Grant, an die Szene mit der Briefmarke, die ein Vermögen wert ist, als der Philatelist sie zurückgibt und sagt, es sei schön gewesen, sie einen Moment in der Hand zu halten. Die Pracht-Avenue zum Triumphbogen gehört zum Stolz der Franzosen, mich langweilt sie eher. Die Menschen sind interessanter als die Geschäfte, gerne würde ich sie fotografieren, aber ich halte mich nicht dafür (ausser das Hochzeitspärchen, das nichts dagegen hat, als ich sie frage).

Die «Stadt der Liebe»: Sie hat ihren Nimbus behalten, Paris, mon amour, die französischen Männer und ihr sprichwörtlicher, manchmal nur nachgesagter Charme. Paare aus aller Welt reisen an, um hier zu heiraten und sich vor der berühmten Kulisse ablichten zu lassen. Romantische Träume sind die schönsten, so schön wie Seifenblasen.

Quartier Latin: Die Gemüsequiche, in der Mikrowelle aufgewärmt, war gerade noch geniessbar, der Preis viel zu hoch, aber ich musste unbedingt etwas essen vor dem Konzert in der Église St-Julien-le-Pauvre, für das ich unterwegs eine Karte gekauft hatte. Im Lokal, in das ich zuerst wollte, brachte mich der Kellner an einen Tisch ganz zuhinterst zwischen Küche und Toilette, obwohl es vorne einen freien Platz gab. Das ist mir nun schon das zweite Mal passiert. Liegt es daran, dass ich eine Frau bin? Frauen, die allein an einem Tisch sitzen, egal welchen Alters, sieht man hier tatsächlich sehr wenige. Ich habe mal gelesen, dass die Kellner in gewissen Restaurants angewiesen sind, nur junge, schöne Menschen vorne zu platzieren. Jung und schön. Beides bin ich nicht. Schon die Idee, im Quartier Latin etwas essen zu wollen, war bescheuert.

Touristen: Schwarmweise einfallende Asiaten, viele Englisch Sprechende, ich höre Spanisch, etwas weniger Italienisch, noch weniger Deutsch. Nirgends sehe ich etwas in Deutsch angeschrieben, neben Französisch nur Englisch und manchmal noch Spanisch. Ob es daran liegt, dass die Franzosen die Deutschen nicht mögen? Und umgekehrt? War das schon immer so oder erst seit den beiden Weltkriegen? Sie sind schon sehr verschieden.

Gastfreundschaft: Die Schnoddrigkeit, mit der die Touristen hier abgefertigt werden, ist ärgerlich. Andererseits kann ich es auch verstehen. Gerne hätte ich die beiden Ballermänner am Nebentisch, die sich junge Girls aufgerissen hatten und dümmliche Witze erzählten, gleich mit einem Einfachticket nach Mallorca zurückgeschickt.

Église St-Julien-le-Pauvre: Hierher zog es mich, weil ich die Schlichtheit dieser kleinen romanischen Kirche und das hübsche Plätzchen davor mag, das griechisch-katholische Interieur mal ausgeklammert, und weil ich keine Lust mehr hatte auf Menschenmassen. Der Pianist spielte Liszt und Chopin, wie könnte es anders sein, beim Programm für die Zufallsbesucher setzt man auf Nummer sicher, es wird schon etwas bemühend. Sein Spiel war virtuos, musikalisch interessant, aber streckenweise viel zu schnell, jedenfalls für meinen Geschmack. Bestimmt ein guter Pianist, besser jedenfalls als die Schmalztante in der Sainte- Chapelle, trotzdem nahm er mich nicht gefangen. Warum müssen heute so viele Pianisten ihre technische Könnerschaft durch immer noch schnellere Interpretationen unter Beweis stellen? Musik ist doch keine Sportveranstaltung.

Sonntagnachmittag, im Café Victor Hugo, Place des Vosges

Heute steht ganz Paris im Zeichen der Musik. Überall finden Konzerte statt, drinnen und im Freien, in allen möglichen Musikrichtungen und immer bei freiem Eintritt. Die Fête de la Musique. Ich bin ganz beglückt, dass ich hier bin, jetzt, da sie stattfindet. Gerade komme ich vom Konzert in der Madeleine, und für heute Abend habe ich mir das Orgelkonzert in der Notre-Dame vorgemerkt. Wenn es mir nicht gefällt, versuche ich es im Louvre, wo Pierre Boulez unter der Glaspyramide das Orchestre de Paris dirigieren wird.

Bevor ich Richtung Notre-Dame weitergehe, gönne ich mir eine Pause, an einem Tischchen unter der Arkade, und träume davon, wie schön es manchmal eben doch wäre, sehr viel Geld zu haben. Dann könnte ich mir hier, am schönsten Platz von Paris, ein Appartement kaufen, mitten im trendigen Marais. Das einzige, was ich diesen Menschen aus der Welt der Reichen und Schönen missgönne, shame on me, ist das Privileg, das ihnen die exklusivsten Orte dieser Welt vorbehält, Orte, wie dieser Platz in seiner perfekten Harmonie.

Das Konzert in der Madeleine ­– Messiaen und Saint-Saëns – hätte mir sehr gut gefallen, nicht zuletzt, weil ausschliesslich junge Leute gespielt haben, was immer eine Freude ist. Wenn nicht diese Stühle gewesen wären. Ich habe unendlich gelitten beim Sitzen, mein Rücken ist nicht geschaffen für diese unbequemen, geflochtenen Kirchenstühle, niedrig und klapprig wie Kindertabourettchen, sie sind die grausame Strafe Gottes für die elenden Sünder, die Erlösung folgt nach dem Amen, wenn man sich wieder erheben darf. Das Konzert war ohne Pause, ab der zweiten Hälfte hätte ich dringend mal gemusst. Aber wo geht man in der Kirche auf die Toilette? Also verklemmen – eine weitere Strafe Gottes. Trinken und an unmöglichen Orten müssen oder nicht trinken und dann irgendwann gar nicht mehr können? Eine Art Circulus vitiosus. Vom Teufel. Passt.

Das Innere der Madeleine ist einfach nur grässlich, das hatte ich vergessen. Und als ob das nicht genügte, ist sie momentan zusätzlich verunstaltet durch – so finde ich jedenfalls – schauderhaft kitschige Kunstobjekte. Sie erinnerten mich an die Ausstellungen in Langres, die der lokale Kunstverein jeweils für seine Hobbykünstler organisierte. Aber vielleicht waren es bloss die Stühle, die mich zu diesem ungnädigen Urteil verleiteten.

Montagmorgen, in der Brasserie Aux P.T.T., Rue Cler

Ich erschauere jedes Mal, wenn in einer Kathedrale die Orgel einsetzt und den Raum mit ihren mächtigen Klängen füllt und ihn dabei noch höher und offener werden lässt. Aber konzentriertes Zuhören war unmöglich am gestrigen Orgelkonzert. Touristen kamen und gingen, schwatzten andauernd, nestelten an ihren Rucksäcken, schlarpten beim Gehen mit den Sandalen oder klapperten mit den Absätzen. Dabei war es ein angekündigtes Konzert von jungen Organistinnen aus der ganzen Welt, die Werke von Bach, Franck, Schumann und modernen, mir unbekannten Komponisten spielten, stellenweise wunderschön. Ich verstand nicht, warum man sich da nicht hinsetzt und einfach zuhört. An diesem Ort, mit dieser Musik, in dieser Kirche, aus dieser mächtigen Orgel, und überhaupt. Vielleicht bin ich einfach nur sentimental.

Nach einer Weile entschied ich mich, es doch noch im Louvre zu versuchen, das Konzert begann erst um zehn. Die anstehende Schlange war so lang, dass mir der Securitas-Mann gleich abriet, mich auch noch hinten anzustellen, es habe keinen Zweck, es zu versuchen, es sei schon jetzt praktisch voll. Gegen seinen Rat und natürlich auch ganz gegen meine Gewohnheit mogelte ich mich sehr weit vorne in die Schlange, was mir zwar ein paar böse Blicke eintrug, aber einen der letzten Plätze sicherte.

Es wurde ein Erlebnis der seltenen Art. Vorne der gefeierte Dirigent, der Strawinskys aufwühlenden Oiseau de Feu dirigierte, vor ihm am Boden sitzend und bewundernd zu ihm aufblickend die Zuhörerinnen und Zuhörer, darunter sehr viele junge Leute, ein ganz anderes Publikum als in der Notre-Dame, hauptsächlich Franzosen, nur wenige Touristen, über uns die Pyramide, an ihrem unteren Rand eine graue Silhouette aus Menschen, die neugierig durch das Glas nach unten blickten, vermutlich ohne etwas zu hören, darüber der eindunkelnde Himmel mit den Sternen. Fantastisch, schräg und einmalig zugleich.

Montagabend, im Deux Magots

Während in der dichtbesetzten Veranda die Touristen sich freiwillig zusammendrängen, geniesse ich es, hier drin zu sitzen, einen Teller Crudités zu essen und mein Glas Wein zu trinken, ganz allein, als einziger (weiblicher) Gast. Ein charmanter, älterer Herr bedient mich aufmerksam und freundlich, wahrscheinlich lässt man ihn hier arbeiten, weil er nicht mehr so schnell ist und zu viele Gäste ihn überforderten, jedenfalls scheint er dankbar zu sein, überhaupt einen Gast, in meinem Fall einen weiblichen, bedienen zu dürfen. Seine Liebenswürdigkeit versöhnt mich beinahe wieder mit den französischen Kellnern. Den ausgezeichneten, nicht allzu teuren Wein, den er mir empfohlen hat, koste ich genüsslich, mit Andacht schaue ich mich um, in diesem schönen Lokal, wo tatsächlich noch etwas von einer vergangenen Ambiance zu spüren ist.

Ich denke an Simone de Beauvoir, die ich bewunderte für ihre Entschlossenheit, mit der sie sich gesellschaftlichen Normen widersetzte. Sie war nicht die erste Frau in der Geschichte, die Grosses gedacht und geleistet hat und sich, um ihr Ziel zu erreichen, gegen die vorherrschende (vor-«herrschend», die Sprache verrät es, die von den herrschenden Männern geprägte) Moral durchsetzen musste. Sie und Sartre waren für mich damals das ideale Paar, so hatte ich es mir vorgestellt, als meine Welt noch voller Möglichkeiten war, eine Beziehung auf Augenhöhe, unzertrennlich verbunden und doch frei. Ohne Lügen. Es war ein idealistisches Bild, wie ich heute weiss.

 

Den Tag habe ich wieder mit Bummeln verbracht, hauptsächlich im Marais. An der Rue des Francs Bourgeois habe ich mal einen Mantel gekauft, viel zu teuer für meine Verhältnisse, aber ich habe ihn geliebt und jahrelang getragen. Irgendwann war er so abgetragen, dass ich ihn nicht einmal mehr in die Kleidersammlung geben konnte und ihn schweren Herzens wegwerfen musste.

 

Ein weiteres Vorurteil muss ich revidieren: Es gibt auch klassisch elegantes französisches Design, ohne gleich überkandidelt zu sein. Ich dachte, dass nur die Italiener das können. Auch die Stoffe sind heute besser, nicht wie früher, als die meisten (bezahlbaren) Kleider aus gemischt-synthetischem Material hergestellt wurden.

 

Im Musée Picasso nahm ich mir viel Zeit, verweilte lange vor jedem einzelnen Bild und begann zu begreifen, was für ein Genie Picasso war.

«Pour moi il ny a pas de passé, ni d'avenir en art. Si une oeuvre ne peut vivre toujours dans le présent, inutile de s'y attarder.»

«Un tableau ne devrait pas être un trompe l'oeil, mais un trompe l'esprit.»

Damit ist fast alles gesagt.

Witzig, die laufende Daniel Buren-Ausstellung mit dem mehrere Meter hohen und breiten Spiegel draussen im Eingangshof. Er steht im 90 Grad-Winkel zum Eingang und trennt den Hof real in zwei Hälften, eine sichtbare und eine verdeckte. Aber durch den Spiegel scheinen der Hof und die geteilte Fassade des Hauses wieder durchgehend. Stellen sich Leute davor, sieht man sie doppelt, einmal das Original, in die Kamera blickend, daneben das gespiegelte Bild in die andere Richtung.

Gleich werde ich in ein Konzert in der Église St. Sulpice gehen, ich hatte eine Karte besorgt, obwohl ich eigentlich keine Lust mehr habe, ich bin etwas überfüttert. Aber in der Wohnung kann ich nicht bleiben, sie ist zu eng, zu ungemütlich, es gibt kaum Platz und nicht genügend Licht, um zu schreiben, einen Film, der mich interessiert hätte, habe ich nicht gefunden, und einen Abend lang in einem Lokal sitzen und allein essen mag ich gerade auch nicht. In solchen Momenten fehlt mir die Gesellschaft eines Gesprächspartners oder einer Gesprächspartnerin.

Dienstagmorgen, in der Brasserie Aux P.T.T., Rue Cler

Vom Konzert habe ich nicht viel mitbekommen, ich weiss nicht einmal mehr, was gespielt wurde, die Konzentration liess früh nach, ich war dauernd woanders. Danach war ich unruhig, wusste, ich könnte nicht schlafen und bin zum Eiffelturm gefahren. In zügigem Tempo stieg ich die Treppen hoch zur zweiten Plattform, kurz vor Mitternacht, ich wusste, sie würden bald schliessen. Ich war die Einzige weit und breit, als ich dort oben in der Dunkelheit stand und über das Pariser Lichtermeer blickte und mir einbildete, ich hätte den Eiffelturm ganz für mich allein.

Heute reise ich ab. Vorher will ich noch ins Musée Quai d'Orsay, diesen alten Bahnhof, dessen faszinierende Dachkonstruktion mich jedes Mal von Neuem fasziniert. Viel Zeit bleibt diesmal nicht, also werde ich mich auf die Sammlung der Impressionisten fokussieren, denen ich treu geblieben bin, seit ich damals mit Steffi in der Orangerie zum ersten Mal im Original gesehen habe, was unser Kunstgeschichtelehrer uns so sehr ans Herz gelegt hat. Sein Einfluss hat ein Leben lang gehalten, ich liebe die Impressionisten noch heute.

Dienstagmittag, im Restaurant Poule au pot Paris 7 (das an der Rue de l’Université in der Nähe der Place des Invalides, nicht das bekannte mit den Guide Michelin-Punkten)

Das Lokal ist bezaubernd. Ein authentisches Café, im übertragenen und im wörtlichen Sinne um die (Strassen-)Ecke, wie man sie hier oft sieht. Das Interieur aus der Jahrhundertwende, die Decke mit Stuckaturen und Rissen, geschnitzte Eichentheke mit einer metallenen, ziselierten Bordüre, gemustert gekachelter Boden, alte Wienerstühle, kleine quadratische Tische, im Nebenraum eine diskret hellrosa gemusterte Tapete und ein alter, ovaler, fast blinder Spiegel, Drucke von Toulouse-Lautrec an den Wänden, hauptsächlich französisch sprechende Gäste. Einmal mehr ausgesprochen gleichgültiges Personal, gestresst und ziemlich unhöflich. Aber die Hausspezialität «Poule au pot» ist für Pariser Verhältnisse gut: Ein Eintopf mit gekochtem Huhn, Lauch, Kartoffeln und Rüebli.

Paris erfüllt alle Erwartungen und bestätigt alle Vorurteile. Die Stadt ist eine Diva. Schön, elegant, egozentrisch, man verfällt ihr, ohne sie zu lieben. Ihren Charme behalten hat sie in den zahlreichen Bäckereien mit den verführerischen Auslagen, aus denen es am Morgen herrlich nach frischem Brot duftet, in der alten Apotheke im Quartier, in der mit Büchern vollgestopften Librairie, oder im Bistro, wo die Menschen am Morgen ihren petit café trinken und die Zeitung überfliegen, bevor sie weitergehen zur Arbeit. Da, wo das alltägliche Leben stattfindet.

 

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