Freitag, 23. Oktober 2009

Colmegna Oktober 2009

Colmegna, das ist zunächst einmal ein verlassener Bahnsteig auf einem höher gelegten Trassee. Ein steiler, betonierter Weg führt hinunter ins Dorf, wo auf den ersten Blick nur eine Häuserzeile zu erkennen ist, die sich entlang der Strasse aufreiht. Genauer besehen versteckt sich dahinter gut getarnt ein kleines, in den Hang geklebtes Dorf mit engen, schattigen Gassen und einer Kirche, deren Campanile mit einsamen, melancholischen Glockenschlägen die Stunden verkündet.
Wie sich herausstellt, ist das Hotel Camin nicht die teuerste, aber die beste Adresse in der Umgebung. An schönster Lage, wo die Gäste freundlich empfangen und aufmerksam bedient werden. Absolut einmalig ist der schmale, langgezogene Park, der sich dem steilen Seeufer entlang an den Hang schmiegt und auf dessen verschlungenen Treppen und Wegen da und dort ein lauschiges Plätzchen zum Verweilen einlädt. Die Chefin empfiehlt mir das Gewächshaus, wo anstelle der Pflanzen geflochtene Sessel mit violetten und purpurnen, goldbestickten Kissen die Atmosphäre des Fin de siècle in Erinnerung rufen.

*

Ich warte auf den Bus nach Luino und verlasse mich darauf, dass ich den Fahrplan, aus dem ich nicht wirklich schlau geworden bin, richtig interpretiert habe. Einzelne, heftige Windböen eilen dem Sturm voraus, der für diese Nacht angesagt ist. Gekräuselte Wellen wandern quer über den See, weisse Schaumkrönchen blitzen auf, in der Ferne erstarrt die Bewegung im Sonnenlicht zur silbrig glänzenden Eisfläche. Zu meiner Überraschung taucht der Bus mit einigen Minuten Verspätung tatsächlich auf.

Das gläsernen Scheppern der Segelboote begleiten mich entlang der Seepromenade, der Wind bläst jetzt so stark, dass ich mich gegen ihn stellen muss, um nicht weggepustet zu werden. Eine Taube steuert vergeblich den Kandelaber als Landeplatz an, nach zwei misslungenen Versuchen gibt sie auf und lässt sich vom Windstoss in die andere Richtung davontragen. Der aufgewühlte See hat sich in der Zwischenzeit schwarzblau verfärbt und peitscht seine Wellen über die Ufermauer. Weit draussen entdecke ich ein einsames Segelboot. Selbst auf die Entfernung lässt sich erkennen, dass es sich um einen verbissenen Kampf handeln muss, die Segel tauchen mal als Strich, mal als kleine weisse Ovale auf, das Boot kann den Kurs nur schwer halten, von Zeit zu Zeit neigen sich die beiden Maste gefährlich tief zur Seite. Ein Mann gesellt sich neben mich und kommentiert die Szene. Es müsse sich wohl um eine grosse Barke handeln, er sei gestern auch draussen gewesen, aber heute wäre das Selbstmord, bei diesem Wellengang wäre er mit seinem Boot längst gekentert. Als ich nach rund einer Stunde wieder nach dem Boot Ausschau halte, sehe ich es nicht mehr.

Nachts tobte und lärmte und grollte der Föhnsturm, schlug herum, was nicht verankert war und riss mit, was nicht die Kraft hatte zu widerstehen. Erst gegen Morgen gab er sein Treiben langsam auf, und nach wenigen Stunden Schlaf erwachte ich bei strahlendem Sonnenschein, als ob nichts gewesen wäre. Die Zeitung schrieb von zahlreichen Schäden in der ganzen Umgebung. Von einem gesunkenen Boot stand nichts.

*

Das Haus von Jacqueline und Walter liegt an einmaliger Lage zuoberst am Hang, mit Blick in beide Richtungen des Lago Maggiore. Ausschlaggebend war aber nicht nur die Lage, welche die beiden bewogen hat, das Haus zu kaufen, wie Jacqueline erzählt. Hier in Italien gebe es nicht diese Trennung der Generationen, wie in der Schweiz. Jung und Alt hätten einen viel natürlicheren Umgang untereinander. Und wer bereit sei, die schweizerische Perfektion nicht zum allgemeinen Massstab zu nehmen, der fühle sich hier wohl und gut aufgenommen, auch als Nicht-Einheimische.

Trotzdem ist das Gefälle zwischen den meist wenig verdienenden Einheimischen und den vergleichsweise gut situierten Halbjahres-Residierenden ein Problem. Schon jetzt, Mitte Oktober, sind die Fensterläden an vielen Häusern verriegelt, deren Besitzer erst im Frühjahr wiederkehren. Manche Geschäfte können im Winter kaum überleben. Und deshalb gibt es kaum Restaurants, wo man mal was anderes kriegt als Pizza oder Pasta, also das, was die Italiener sich leisten können. Jacqueline erzählt vom Haus mit den zwei Treppen in Luino, das jahrelang leer gestanden und dann sehr schön renoviert worden sei. Doch das Restaurant «Le due Scale» habe sich gerade mal einen Sommer gehalten.

Der Blick vom Balkon des Hauses ist überwältigend. Steil unter uns der See, der sich wie ein Fjord in beide Richtungen in der Ferne verliert und dessen glänzende Oberfläche sich seitlich vom gegenüberliegenden ans diesseitige Ufer bewegt, dahinter die braun-grünen Berge, die sich wie Kegel versetzt hintereinander stellen und deren Kuppen und Spitzen sich in der vom Föhnsturm geklärten Luft scharf konturiert vom tief blauen Himmel abheben. Das Licht ist so gleissend, dass meine automatische Kamera diese überwältigende Aussicht überbelichtet und sie im Dunst verschwinden lässt. 

*  

Von Dumenza marschiere ich zügig über die schmale, asphaltierte Strasse hinunter nach Colmegna. An besonnten Mauern räkeln sich die Eidechsen, die wie der Blitz verschwunden sind, wenn ich sie näher betrachten möchte. Während des Gehens in den engen Serpentinen sind nicht die allesamt zu schnell fahrenden Autos das grösste Problem, sondern die kläffenden Köter, die zähnefletschend die Gitter hinaufspringen und mich zu Tode erschrecken, wenn ich an ihnen vorbeigehe. Ich schicke ein Stossgebet zum Himmel und hoffe, dass die Tore gut verriegelt sind. Nach einer knappen Stunde bin ich im Dorf, wo es absolut ruhig und kein Mensch zu sehen ist. Fast ein bisschen surreal.

*

Ich will nach Cannobio auf der anderen Seeseite. Um rechtzeitig zurück zu sein, muss ich das Schiff in Luino um 11.05 Uhr erreichen. Den Bus direkt vor dem Haus kann ich diesmal nicht nehmen, der fährt entweder zu früh oder zu spät, also wähle ich den Zug um 10.37 Uhr. Das wird reichen, um ohne grosse Eile zu Fuss vom Bahnhof bis zur Schiffstation zu gehen. Dachte ich...

Um 10.30 Uhr stehe ich wieder an der verlassenen Bahnstation, die einem alten Film entnommen sein könnte. Aus dem rostig-braunen Schotter der eingleisigen Bahnstrecke wuchern anspruchslose Gräser und allerlei Pflanzen, die ich als Unkraut verunglimpfen muss, weil ich sie nicht kenne; auf der gegenüberliegenden Seite steht vernachlässigt und teilnahmslos ein Haus, das vielleicht mal ein Bahnhof war; unter dem überdachten Perron döst ein Wartehäuschen mit ein paar blinden Scheiben, die überdauert haben und an denen kleine, vergilbte Anschläge kleben, die Wände der Unterführung sind besprayt, darunter der Spruch I was here!, oben am Treppengeländer baumelt schräg ein verrosteter Stempelapparat. Irgendwann fährt ein Zug vorbei.

Um 10.44 Uhr, wenn der Zug eigentlich in Luino ankommen sollte, stehe ich noch immer da. Kein Mensch weit und breit. Habe ich den Fahrplan falsch gelesen? Oder hätte ich den vorbeifahrenden Zug aufhalten sollen, wie das Plakat an der hohen Mauer unterhalb der Bahnstation vermuten lässt. Dort heisst es nämlich: Fermata facoltativa. Utilizzare il tasto rosso della cassetta arancione sul marciapiede. Aber ich sehe weit und breit keinen orangefarbenen Kasten mit einer roten Taste. Unsicher geworden stehe ich schon auf der Treppe zur Unterführung und ändere in Gedanken mein Tagesprogramm, als der Zug einfährt. Es ist 10.48 Uhr.

Sieben Minuten später renne ich von der Stazione Centrale in Luino los und kämpfe mich, nach Lücken in der träge vor sich hinfliessenden Menschenmasse sperbernd, Leute auf die Seite stossend (was sonst weiss Gott nicht meine Art ist), seitlich hüpfend und Scusi!, Per favore!, Pardon! rufend durch das Gewühl des Mittwochmarkts, der mir als sehenswert empfohlen worden ist, der mich aber gerade nicht interessiert, und den ich deshalb in meinem Zeitplan nicht bedacht hatte.

Punkt 11.05 Uhr stoppe ich am Schalter der Schiffstation und huste, völlig ausser Atem und mit zitternden Knien, Cannobio, per favore! durch die Scheibe, der weibliche Schatten dahinter greift zum Lautsprecher und spricht eine weit herum hörbare, knappe Mitteilung an die Schiffscrew hinein, deren Wortlaut ich aber nicht verstehe, schiebt mir das Ticket zu und nennt den Preis, ich werfe die Note hin, angle das Ticket, lasse die Münzen liegen und renne zur Brücke, die schon eingezogen war und extra für mich wieder ausgefahren worden ist. In Cannobio löse ich vorsichtshalber die Rückfahrkarte schon bei der Ankunft.

*

Vom anfahrenden Schiff aus schiebt sich Cannobio wie eine lange, farbige Häuserkulisse ins Bild. Ein hübscher Ort, auf das Delta des Cannobino gebaut, sehr touristisch, mit einer neu gestalteten, teilweise mit Kopfsteinpflaster geschmückten, eleganten und in ihrer Grosszügigkeit schon fast mondänen Seepromenade, die gesäumt ist von Restaurants, Gelaterien, Cafés, Bars und Souvenirläden. Dahinter, parallel dazu eine schmale Gasse, ebenfalls kopfsteingepflastert, aber nicht neu, die authentischere Kehrseite der Postkartenfassade sozusagen. Gepflasterte Quergässchen führen vom See weg den Hang hinauf zur Hauptstrasse, dahinter verzetteln sich die Häuser in die Talebene. Nach einer guten Stunde habe ich gesehen, was in dieser kurzen Zeit zu sehen ist. Noch weiter zu gehen, riskiere ich nicht, ich darf das Schiff auf keinen Fall verpassen. Im Lo Scalo gegenüber der Schiffländte leiste ich mir ein gediegenes Menü und vertreibe die Zeit bis zur Abfahrt mit Schreiben und Beobachten der Menschen. Selbstverständlich so unauffällig wie möglich. Man will ja nicht indiskret sein.

*

Der Chef der Service, ein gutaussehender junger Mann mit Vollglatze, lässig, elegant, schwarzgekleidet, weist die Plätze mit dieser gewissen Noblesse zu, die nur den Italienern zusteht. Der Kellner dagegen bedient schweigend, zwischen seinen Augen eine steile Falte, der Mund ein Strich, die Mundwinkel nach unten gezogen. Die Gäste sprechen ausschliesslich Schweizerdeutsch. Ich sitze allein an einem Tisch und bekomme zwangsläufig einiges von dem mit, was sie sagen. So auch das Gespräch, aus dem hervorgeht, dass der Chef de Service eigentlich der Inhaber ist, dass das Lokal ab dem 2. November bis im Frühling geschlossen ist, und dass er und seine Frau im Winter ein anderes Geschäft betreiben, weil sie dann ja auch etwas verdienen müssen.

Schräg vis-à-vis sitzen zwei Ehepaare, die Frauen in meinem Alter, ihre Männer um einiges älter und schon etwas greisenhaft. Eine der Frauen beklagt sich in gellendem Zürcher Dialekt über irgend etwas und ich verstehe plötzlich den schlecht gelaunten Kellner.

Geradeaus vor mir ein Mann, vermutlich Ende 50, mit seiner Frau, die einen strengen und nicht besonders lebenslustigen Eindruck macht, beide aus der Ostschweiz, mit betagten Eltern, vermutlich seinen, die kaum was sagen und offensichtlich auch nicht mehr ganz alles mitbekommen, auch wenn er es ihnen noch so oft und noch so deutlich wiederholt. Alle gut gekleidet, ziemlich sicher wohlhabend. Jedenfalls schliesse ich das aus der bestimmten Art, wie der Mann spricht – meistens nur er und so laut, dass man ihn hört.

*

Ich bin zurück aus Cannobio und sitze allein in einem der Korbsessel im Gewächshaus, den Laptop auf den Knien, über mir die Baumkronen, die sich über die Glaskuppel beugen, und deren Blätter ein bewegtes Schattenmuster auf den Boden malen, vor mir die Türe, deren Flügel ich einen Spalt offenlasse, damit etwas Luft hereinkommt. Die Sonne steht bereits weit unten, ich muss ihr ausweichen und den Sessel von Zeit zu Zeit in den wandernden Schatten nachrücken.

Nun also habe ich so ziemlich alle Nichtigkeiten des Tages aufgezählt. Aber das Leben besteht wohl zur Hauptsache aus Belanglosigkeiten. Verleihe ich einer Begebenheit Bedeutung, indem ich sie aufschreibe? Oder erlangt sie diese erst, wenn jemand das Geschriebene liest? Und verliert sie sie wieder, wenn sie im Urteil des Lesers als bedeutungslos eingestuft wird? Und bedeuten Gedanken wie diese bloss Eitelkeit und sind demnach auch bloss Nichtigkeiten?

 

An mein imaginäres Gegenüber

Wenn ich meinem imaginären Gegenüber schreibe, also dir, fällt es mir leichter zu formulieren. Ich wüsste sonst nicht,warum ich den Rat meiner Freundin befolgen sollte, meine Reisenotizen als Blog zu veröffentlichen. Obwohl mir die Idee auch schon gekommen war. Aber ich hatte sie immer wieder verworfen, weil ich mir nicht einbilde, jemand interessiere sich für meine Aufzeichnungen. Indem ich mich an dich wende, verleihe ich meinem Schreiben einen Sinn und verschaffe mir sozusagen selber eine (imaginäre) Leserschaft – gleichzeitig fühle ich mich mit jemandem verbunden, das kannst du sein oder jemand anderes, was mir zusätzlich ein gutes Gefühl gibt.
"Unterwegs" als Titel für meinen Blog habe ich mit Absicht gewählt, weil er viele Bedeutungen zulässt. Unterwegs bin ich ja nicht nur auf Reisen, unterwegs bin ich auch in Gedanken; oder ich befinde mich im Aufbruch, beispielsweise in eine neue Lebensphase. Unterwegs kann bedeuten, dass ich mich fortbewege, es kann aber genauso gut sein, dass ich unterwegs einen Halt mache. So verschafft mir der Begriff „unterwegs“ die Möglichkeit, auch ohne besonderen Anlass zu schreiben. Aus der Lust heraus, die vielleicht eine Sucht ist. Oder eine Therapie. Adolf Muschg hat darüber ein Buch geschrieben. Manchmal denke ich, dass mein Schreiben auch bloss eine Therapie ist. Zum Beispiel gegen meine Unfähigkeit, mich verbal auszudrücken, gegen meine Schüchternheit, von der nur ich weiss, gegen die Einsamkeit, die mich manchmal mitten unter vertrauten Menschen überfällt. Vielleicht schreibe ich auch gegen meine Endlichkeit an, in der Illusion, mein Geist überlebe im Geschriebenen oder bleibe zumindest noch eine Weile als Erinnerung lebendig. Schreiben als Aufschub. Gegen das Versinken in die Dunkelheit des Vergessens, gegen den endgültigen Tod. Vielleicht schreibe ich auch aus einem anderen ganz anderen Grund, beispielsweise, um irgendwann anzukommen, wo ich hingehöre. Schreiben als Versuch, mich selbst zu verstehen. Ich weiss es nicht. So oder so sind es Fingerübungen. Und die Möglichkeit die Zeit zu füllen, indem ich sie vergesse.
Der Gedanke, dass meine Aufzeichnungen als Blog öffentlich einsehbar werden, ist mir eigentlich unangenehm. Das sage ich ganz ohne Koketterie. Andererseits leugne ich nicht, dass die Vorstellung durchaus ihren Reiz hat. Auch wenn mich dabei das Gefühl, vielleicht doch einen Fehler zu begehen, wohl nie ganz loslassen wird. Aber wie ich dir schon sagte, du als Leser oder Leserin bist für mich Motivation genug, zudem hilfst du damit meinem stets vorhandenen Schreibbedürfnis, sich gegen meinen ebenfalls stark ausgeprägten Hang zur Bequemlichkeit durchzusetzen. Den Rat, ich solle mich beim Schreiben intellektuell fordern, den mir mal ein guter Freund geraten hat, hab ich nicht vergessen. Das Wissen, mich der möglicherweise vernichtenden Kritik der Öffentlichkeit auszusetzen, wird sich ab nun als Zensor in meinem Hinterkopf einrichten und mich zwingen, meine Erinnerung immer erst auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, bevor ich sie festhalte; und es wird mich lehren, zwischen Denken und Schreiben einen Filter einzulegen, worin die allzu kleinen oder zu persönlichen Nichtigkeiten hängen bleiben – wobei ich damit nicht sagen will, dass mein Tun ohne diese Nichtigkeiten eine grössere Bedeutung erlangte. Mir ist völlig klar, dass solch schnelles Schreiben nur oberflächlich sein kann. Momentaufnahmen, die der Zufall inszeniert und die keinen Anspruch haben zu überdauern.
Die Idee, einen Blog zu errichten hatte ich vor ein paar Wochen in Paris, als ich in der Kirche St. Julien-le-Pauvre in der Nähe des Quartier Latin ein Konzert besuchen, aber vorher noch etwas essen wollte. Im vollbesetzten Lokal, in das ich geraten war, weil mich der Geruch nach Gegrilltem angelockt hatte, hielt ich Ausschau nach einem Tisch. Wohl wissend, dass ich in dreifacher Hinsicht nicht der Idealvorstellung eines Gastes entsprach – Einzelperson, weiblich und in einem Alter, das Kellner auf der ganzen Welt und in Paris im Speziellen durch Nichtbeachtung bestrafen - steuerte ich einen mit zwei Personen besetzten Vierertisch an und fragte, ob ich mich hinzusetzen dürfe, was die beiden jungen, französisch sprechenden Leute mit einem freundlichen Kopfnicken zuliessen. Sie sassen am Fenster im vorderen, breiten Teil des Restaurants, das sich nach hinten in die Dunkelheit und die gestaute Hitze verengte. Kaum hatte ich mich gesetzt, kam der Kellner und forderte mich ultimativ und keineswegs höflich auf, ihm zu folgen, er habe für mich einen anderen Tisch. Sein Ton liess keinen Widerspruch zu, also folgte ich ihm brav bis zum hintersten Tischchen im schmalen Gang zwischen Küchen- und Toilettengerüchen, wo er mich hinsetzen, wo ich aber ganz bestimmt nicht absitzen wollte. Meine Chancen gegen ihn schätzte ich ziemlich gering ein, also verliess ich das Lokal, um mir an einem Stand ein Sandwich zu kaufen. Hinterher ärgerte ich mich. Warum hatte ich nicht auf meinem Recht bestanden? Oder habe ich als Einzelperson, weiblich, in einem Alter, das Kellner auf der ganzen Welt und in Paris im Speziellen durch Nichtbeachtung bestrafen, dieses Recht verwirkt? Allein durch die Tatsache, dass ich allein, eine Frau und nicht mehr jung bin?
So war ursprünglich mein Ärger die Motivation für diesen Blog, mit dem ich die Touristen aus aller Welt zum Boykott solcher Lokale aufrufen wollte (was nichts genützt hätte, weiss ich ja..). Aber dann hat mir dieser Freund gesagt, dass ihm als Mann genau das Gleiche passiert wäre, weil der Kellner bestimmt die Anweisung hatte, so zu handeln. Das habe weder mit meinem Geschlecht noch mit meinem Alter, sondern mit Geschäft zu tun. In diesem Moment hatte ich die Idee, diesen Blog zu schreiben.

Im Zug

Ich liebe es, im Zug zu reisen. Er bringt mich an mein Ziel, während ich lesen, schreiben, mich mit jemandem unterhalten oder in Gedanken versunken in die vorbeirasende Gegend blicken kann – umgekehrt natürlich, der Zug rast, die Gegend steht still, Einstein lässt grüssen. Und nicht zuletzt mag ich das Zugreisen, weil ich mich jedes Mal auf neue Überraschungen gefasst machen muss, die mich herausfordern, meine Toleranz und manchmal auch meine geistige Flexibilität auf die Probe stellen.

*

Jemand hat mir mal gesagt, dass er nicht gerne im Ruhewagen reise, weil man dort gleich böse Blicke zugeworfen bekomme, wenn mal das Handy klingle. Er hatte natürlich Recht. Hugo Loetscher kommt mir in den Sinn, der diese schweizerische Kleinkariertheit im «Waschküchenschlüssel» so wunderbar sarkastisch auf den Punkt gebracht hat. Aber, um ganz ehrlich zu sein, ich mag es auch nicht, wenn ich extra in den Ruhewagen gehe, um ungestört zu lesen, und muss dann unfreiwillig mithören, wie sich das Rentner-Ehepaar nebenan gegenseitig die Aussicht kommentiert, oder was die beiden alten Damen im nächsten Abteil alles über ihre Enkel und ihre zahlreichen anderen Familienangehören zu erzählen haben. Dann bin ich ganz froh über einen dieser Spiessbürger, der diesen Fahrgästen sagt, dass sie stören, und dass es für sie neben diesem einzigen Ruheabteil in der gesamten Zugskomposition doch noch ganz viele andere Wagen mit Sitzgelegenheiten gibt. Selber würde ich so etwas natürlich nie tun. Man ist ja nicht so.

*

Als ich mal im Cisalpino durch den Gotthard fuhr, ist der Zug prompt im Tunnel stecken geblieben. Weil ich beinahe damit gerechnet und meine Reise in Etappen geplant hatte, blieb mir der Stress erspart, mit dem die amerikanische Familie – vermutlich Grossmutter, Mutter und zwei Töchter samt vier überdimensionierten Koffern – durch die dichtgedrängte Menge im Mailänder Bahnhof auf den nebenstehenden Perron hetzte, wo der Zug nach Rom vermutlich längst abgefahren war. Ich schaue ihnen nach, im Ohr Mani Matters «Lied vo de Bahnhöf», worin Inhalt, Sprache und Melodie so genial zusammenfliessen, dass man die Wartenden und die an ihnen vorbeifahrenden Züge im Kopfkino sehen und hören kann. 

Für mich ging das Zugsabenteuer am nächsten Tag weiter, als wir etwa anderthalb Stunden im Nirgendwo stecken geblieben sind und niemand wusste, warum und für wie lange. Auch die Zugbegleiter nicht. Zum Glück hatte ich vor, eine Nacht in Triest zu bleiben und erst am nächsten Tag mit dem Bus nach Rijeka weiterzureisen. Somit konnte ich mich genüsslich zurücklehnen, das Ärgern den Andern überlassen und in der «Geschichte von Liebe und Finsternis» weiterlesen, diesen wunderbar geschriebenen, voller Wärme erzählten, traurigen und doch so tröstlichen Kindheitserinnerungen von Amos Oz. 

Auf der Rückreise blieb die Aufregung auch mir nicht mehr erspart. Im Regionalzug von Triest nach Venedig meldete die Lautsprecherstimme kurz vor der Abfahrt, nur validierte Tickets seien gültig, wer ohne abgestempelte Fahrkarte reise, riskiere eine Busse. Mit halbem Ohr hörte ich etwas von 200 Euro und schoss elektrisiert auf, überliess meine Koffer ihrem Schicksal, stieg aus dem Zug und rannte vom Wagen gleich hinter der Lok den ganzen Zug entlang zurück zum Kopf des Perrons, wo der kleine gelbe Kasten stand, in den ich mein Ticket steckte, wie ich es von Frankreich her kenne. Mit der gestempelten Fahrkarte raste ich die ganze Strecke wieder zurück und kam gerade noch rechtzeitig bei meinem Wagen an, bevor der Zug sich in Bewegung setzte.

Als der Schaffner kurz danach die Billette kontrollierte, hielt ihm der Mann im Abteil nebenan, ein eleganter junger Italiener, wahrscheinlich geschäftlich unterwegs, den Bildschirm seines Laptops hin und sagte, er habe das Ticket per Internet gekauft, somit könne er es nicht abstempeln. Doch der Schaffner liess dieses doch einigermassen plausible Argument nicht gelten. Es entwickelte sich eine lange Diskussion, in die sich noch andere einmischten, aber der Schaffner blieb hart. Der junge Mann musste die Busse bezahlen, kündigte aber an, er werde sich bei der Direktion beschweren und das Geld zurückfordern.

In Panik geriet ich schliesslich im Trenitalia ab Venedig. Es war nach 21 Uhr und schon dunkel. In Vicenza, meinem Reiseziel an diesem Tag, wollte ich aussteigen. Nur: Die Türe liess sich nicht öffnen. Auch die Türe des nächsten Wagens nicht. In meiner Verzweiflung rief ich laut, ob mir jemand helfen könne. Eine junge Dame in einem engen, schwarzen Deux pièces und hohen Stilettos kam freundlicherweise herbeigeeilt und versuchte es nun ihrerseits, ebenfalls ohne Erfolg. Zeit zu überlegen blieb nicht, also rannte sie trippelnd durch den Wagen – ich mit Sack und Pack hinterher – zur dritten Tür, die sich schliesslich meiner erbarmte. Mit einer Riesenportion Glück konnte ich mich und meine beiden Koffer in allerletzter Sekunde heil aus dem Zug retten, während dieser bereits anfuhr; der Schaffner hatte schon zur Abfahrt gepfiffen, bevor ich ausgestiegen war. 

Gerne hätte ich meinen Aufenthalt in Vicenza um einen Tag verlängert, aber das Ticket liess sich auch unter Einsatz aller mir möglichen Argumente und Charmeattacken nicht umschreiben. Weil es in der Schweiz ausgestellt worden sei.