Dienstag, 10. April 2012

London, April 2012

In London war ich zum ersten Mal vor über 50 Jahren (heute sind es 57 Jahre), mit meinen Eltern, da war ich noch nicht ganz 17 Jahre alt. Ich kann mich noch an eine düstere Stadt erinnern, so schwarz wie der Lappen, nachdem ich mich abends damit gewaschen hatte.

Von damals in Erinnerung geblieben sind mir noch die dreieckigen, pampigen Sandwiches, der Speakers Corner im Hyde Park, die riesigen Grabmale in der Westminster Abbey, eine Rötelzeichnung von Da Vinci, die im Eingang der Tate Britain hing, wo meine Mutter unbedingt hinwollte, und die schauerliche Folterkammer in Mme Tussauds Wachsfigurenkabinett, wohin mein Vater unbedingt wollte. Später, bei der Swissair, war London eine der angeflogenen Destinationen, doch übernachtet habe ich da nur selten, je nachdem, welche Rotation auf dem Einsatzplan stand, und wenn, verbrachte ich die knappe Zeit mit den Kollegen, meist bei Essen und Trinken. Nur manchmal erlaubte ich mir einen kleinen Alleingang. Das ist auch schon 40 Jahre her. Seither war ich nie mehr in London.

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Klar, die Tube ist noch dieselbe, Treppchen auf, Treppchen ab, plötzliche Windstösse, die einen aus seitlichen Fussgängertunnels unvorbereitet anfallen und für ständig gerötete Augen sorgen, volle Züge, meistens so crowded, dass sich zwangsläufig die Assoziation zur Sardinenbüchse einstellt und man sich mit der sprichwörtlichen Gelassenheit der Engländer wappnen muss, um nicht in Panik zu geraten.

Gelassenheit ist ohnehin eine unabdingbare Eigenschaft bei so vielen Menschen, rund 8 Millionen (heute bald 9 Millionen), Disziplin eine weitere. Vor den Aufzügen drängelt niemand, ausser vielleicht ein paar Touristen, ist der Lift voll, wartet man halt auf den nächsten. Stoisch. Dank dieser offenbar typisch englischen Haltung bleibt auch die Aggressivität aus, die in anderen Städten in weniger bedrängten Situationen wesentlich stärker spürbar ist. In Berlin hatte ich ein ungutes Gefühl, als ich einmal nachts mit der U-Bahn unterwegs war, obwohl ich es mir wahrscheinlich nur einbildete. In London nicht. Vielleicht lag das aber nur daran, dass ich mich ausschliesslich im Zentrum aufhielt, viel weiter als Bloomsbury, wo ich wohnte, bin ich nicht gekommen.

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Wenn ich damals, als ich noch geflogen bin, zum ersten Mal in eine Stadt kam, habe ich mich jeweils in einen Bus gesetzt und bin von Endstation zu Endstation gefahren. Es war die Zeit nach 68, ich wollte weder zu den Sehenswürdigkeiten noch in Museen pilgern, sondern wissen, wie die Menschen leben. Eine Stadt verändert sich und zeigt ihr wahres Gesicht, je nachdem in welche Richtung und je weiter man nach draussen fährt. Die Einkommensunterschiede werden deutlich, die Lebensbedingungen auch, man sieht die schöne oder die hässliche Umgebung, man sieht sie im Bus, die Menschen betrachtend, die ein- und aussteigen. In New York wusste ich immer, in welchem Viertel ich mich befand, die Separation war offensichtlich, ob jüdisch, chinesisch, schwarz oder weiss.

Als ich die ersten paar Male in London war, habe ich das auch gemacht. Ich weiss nicht mehr, wann wir jeweils landeten und wieder abflogen. Aber ich sehe noch das Hotel vor mir, wo wir übernachteten. Immer nur eine Nacht. Und ich sehe Busstationen vor mir, irgendwo draussen, wo ich allein wartete. Heute hat sich viel geändert, aber die sozialen Unterschiede sind noch da, die Einkommensunterschiede auch, die sind sogar noch weiter auseinandergegangen. Aber ich muss es nicht mehr mit eigenen Augen sehen, ich weiss es auch so.

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Höflichkeit ist eine weitere sprichwörtliche Eigenschaft, die den Engländern nachgesagt wird. Ich kann sie bestätigen. An der U-Bahnstation war sofort jemand zur Stelle, als ich nicht genau wusste, wie viele Zonen ich lösen muss, überhaupt, wo immer ich etwas wissen wollte, habe ich geduldig Auskunft erhalten, wenn jemand zu schnell gesprochen hat und ich nicht genau verstanden hatte, hat man mir alles nochmals ausgiebig und in verlangsamtem Tempo erklärt, und die junge Frau am Ticketschalter der Oper warnte mich eindringlich, der Platz für die Beine sei zu eng, und als ich sagte, ich würde das (günstige) Ticket trotzdem nehmen, sagte sie noch einmal ganz besorgt: But you will feel uncomfortable.

Der Buschauffeur, der mich zur Tate Modern fuhr, sagte mir, ich solle nur Platz nehmen, er werde mich rufen, wenn es so weit sei. Er erinnerte mich an die Episode, die meine Mutter jedes Mal erzählte, wenn die Rede auf London kam, als der Bus abfuhr, sie schon drin und mein Vater und ich noch draussen, und sie nicht einen Penny dabei hatte, weil mein Vater das Geld verwaltete, zu Hause bekam sie von ihm das abgezählte Haushaltgeld und im Ausland bezahlte sowieso er. Der Chauffeur winkte freundlich ab und liess sie mehrere Stationen gratis mitfahren bis zur U-Bahnstation, wo wir hinmussten und wo mein völlig aufgelöster Vater, der schon geglaubt hatte, er habe seine Frau für immer verloren, und ich sie wiederfanden, lächelnd, als ob nichts gewesen wäre. Sie war diejenige, die Englisch konnte, sie war diejenige, die zurechtkam allein, ohne sie wäre er verloren gewesen, nicht umgekehrt, wie er immer dachte.

Das damals noch sprichwörtlich schlechte Essen gehört definitiv der Vergangenheit an, die Stadt bietet so ziemlich alles, was diese Welt gastronomisch zu bieten hat. An der Marchmont Street, in deren nächster Nähe ich wohnte, reiht sich ein kleines Beizli ans andere, man hat die Qual der Wahl zwischen italienischer Pizza, indischem Tandoori, englischem Beef oder was auch immer das Herz begehrt.

Das Fork, ein sympathisches kleines Café, wo mein Tag begann, war rege besucht von Studenten, die zehn Prozent Rabatt erhielten für ihren morgendlichen, frisch zubereiteten Take away-Porridge, der klebrig vom Schöpflöffel in den Becher tropfte, für das Birchermüesli oder für das feine Joghurt nature mit etwas Crunchy und frischen Früchten.

Proppenvoll war es auch im Wong Kei an der Wardourstreet in Chinatown, einem Lokal, das mir Pius empfohlen hat, wo die Wong Tong, die Nudelsuppe, für bescheidene 4 Pfund zu kriegen ist. Laut Pius die beste, die es gibt, meine entsprechend hohen Erwartungen hat sie nicht erfüllt.

Beinahe unbezahlbar geworden ist bekanntlich das Wohnen in London, so gesehen hatte ich Glück, mein verhältnismässig günstiges Studio in den Cartwright Gardens war winzig, aber angenehm und sauber, und vor allem ideal gelegen. Mitten in Bloomsbury, ruhig, je rund 500 Meter von den U-Bahnstationen Kings Cross, Euston Square und Russel Square entfernt. In der nahen Umgebung gibt es alles für den täglichen Bedarf, von der kleinen Bäckerei mit frischen Baguettes bis zum 24 Stunden geöffneten Laden.

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Das Ziel meiner Reise war die David Hockney-Ausstellung in der Royal Academy. Ich wusste, der Andrang würde gross sein, auch, dass die Besucher nur in beschränkter Anzahl eingelassen würden, damit vor den Bildern kein Gedränge entstünde. Angesichts dieses voraussehbaren Vorteils waren die rund anderthalb Stunden trotz Kälte gut zu ertragen in der sich immer dichter schlängelnden Reihe, in der ich ganz im bildlichen Wortsinn Schlange stand und ausreichend Zeit hatte, den mitgebrachten Reiseführer zu studieren, was mich sonst immer etwas langweilt.

Die Bilder Hockneys waren von einer farblichen Intensität, wie ich sie selten erlebt habe. Hockney stilisiert die Natur so gekonnt, dass sie realistisch erscheint, obwohl die Baumstämme nicht einfach braun, sondern rot, blau oder orange sind. Ein wahres Fest für die Sinne. Auch perspektivisch. Man steht mitten in diesen grossartigen, weiten Landschaften und wundert sich, warum es einem erst jetzt auffällt, dass der schneebedeckte Boden auch violett und der Frühlingsacker knallrot sein kann. Mein Schwager fiel mir ein, der mich auf unserer Terrasse einmal gefragt hatte, was für eine Farbe meiner Meinung nach die Verbundsteine hätten. Grau, sagte ich und wunderte mich über die Frage. Schau genauer hin, sagte er, dann kannst du darin ganz viele Farben entdecken. Er hatte Recht. Nicht nur, was das Grau der Verbundsteine betrifft. Man muss bewusst hinschauen, um die Dinge zu erkennen. Es war eines der Schlüsselerlebnisse meines Lebens.

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Eigentlich hätte ich vorgehabt, mindestens einen der schönen Parks zu geniessen und dann im Hydepark die Serpentine-Gallery zu besuchen, aber der strömende  Regen durchkreuzte meine Pläne, also trieb ich mich rum, vorbei an zahlreichen Baustellen, mit denen sich London für Olympia rüstet, unter anderem am Leicester Square, der vollkommen neu gestaltet wird.

Obwohl es noch immer wie aus Kübeln goss, setzte ich meinen Streifzug fort, ging planlos weiter, blieb ab und zu stehen vor einer Auslage oder hielt Ausschau nach einem Kino oder Theater, wo ich den Abend hätte verbringen können. Ganz spontan kaufte ich schliesslich ein Ticket für das Musical Les Misérables, mehr aus praktischen Gründen denn aus Interesse, das schon leicht schmuddelige Theater befand sich bloss ein paar Schritte vom Wong Kei entfernt, wo ich kurz vorher meine Nudelsuppe gegessen hatte.

Victor Hugos epochales Werk als eingängiges Musical. Aber vielleicht erreicht man die Menschen heute tatsächlich besser mit einem Film oder einem Musical. Die Leute lesen immer weniger, Literatur verliert an Bedeutung, sie wird ersetzt durch Bild und Ton. Mein hochbegabter Neffe liest kaum Bücher, viele meiner ehemaligen Berufskollegen lasen keine Bücher. Ich verstehe es nicht. Mir hat das Lesen meinen Horizont erweitert, es hat meinen Blick geöffnet, mich vieles gelehrt. Ein Leben lang. Ohne Bücher wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin.

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London gehört nicht zu den Städten, in denen ich leben möchte. Aber aus der schwarzen, Furcht einflössenden Stadt meiner Kindheit ist eine lebendige, multikulturelle Metropole mit einem schier endlosen Angebot geworden. Beeindruckend, aber auch anstrengend. Der Lärmpegel ist permanent hoch, man ist dauernd in der Menschenmenge, alles ist im Fluss, es gibt keinen Stillstand, keine Pausen. So war ich denn ganz froh, wieder im bedächtigen, vergleichsweise fast menschenleeren Zürich anzukommen, auch wenn mir die Schweizer Biederkeit dann und wann mindestens so auf die Nerven geht wie in London die allzu «crowded» Tube.

 

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