Samstag, 12. September 2020

Was ist richtig, was ist falsch?

Die Ambivalenz beschäftigt mich seit meiner Jugend, seit ich mich zu fragen begann, was richtig und was falsch ist. Als ich begriff, dass es nicht nur eine Sicht auf die Dinge gibt, sondern ganz viele. Als ich erkannte, dass jede Person ihre eigene Wahrnehmung mitbringt und in ihrer eigenen Wahrheit lebt, zusammengemixt aus der Herkunft, dem Charakter, der Psyche, dem angelernten Wissen und der individuellen Erfahrung. Als mir bewusst zu werden begann, dass auch meine eigene persönliche Wahrheit wandelbar bleibt, weil wir nicht nur gut oder schlecht und auch nicht allwissend, sondern in uns selber widersprüchlich sind und uns verändern, genau wie unsere Erinnerung, um die herum wir Geschichten bauen, Geschichten, die wir uns selber glauben, obwohl sie vielleicht nicht ganz den Tatsachen entsprechen. Die keine Lügen sind, weil wir nicht bewusst die Unwahrheit sagen, sondern denken, es sei die Wahrheit.

Die Ambivalenz zu verstehen ist für mich eine der zentralen Voraussetzungen, die Welt zu begreifen. Verkürzt: Das «Sowohl als auch» im Widerspruch zum «Entweder oder». Noch einfacher gesagt: Menschen, die immer glauben zu wissen, was richtig und was falsch ist, irren sich grundsätzlich. Jetzt, wo die Spaltung der Gesellschaft in vielen Ländern zunimmt oder schon beängstigend weit fortgeschritten und zementiert ist, wie in den USA, wird das Thema im politischen Sinne brandaktuell.

Heute gibt es Theorien, die davon ausgehen, Demokratie sei als System nicht mehr zukunftsfähig, Systeme mit schnelleren Entscheidungswegen seien besser geeignet, die zahlreichen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Dafür spreche auch das Bedürfnis vieler Menschen nach Führung, ihr Wunsch, Verantwortung abzugeben in einer Zeit, in der alles kompliziert und unüberschaubar geworden sei, ihre Sehnsucht nach Antworten, wo es noch keine gibt.

Ich halte diese Theorien einerseits für nachvollziehbar, weil es dieses Bedürfnis tatsächlich gibt, andererseits für äusserst problematisch, für veraltetes Denken und letztlich für vollkommen absurd. Es sei denn, man konditioniert die Menschen dazu, nicht mehr selber zu denken. Der Wunschtraum aller Diktatoren und Autokraten. Die einzige Ideologie, die das auf lange Sicht geschafft hat, ist die Religion. Deshalb ist sie ja auch das geeignetste Instrument, autoritäre Systeme und deren Führer an der Macht zu erhalten. Wer an Gott glaubt, für den ist er real. It’s the brain, stupid! Das gilt auch für gewisse politische Parteien, die wie Sekten organisiert sind. Mit einem Führer, der das Sagen hat, seinen Adlaten, die ihn stützen, aus Eigennutz oder welchen Gründen auch immer, und einer verblendeten Anhängerschaft, die das (selbst-)kritische Denken aufgegeben hat oder zumindest nicht mehr aufmuckt.

Ich denke: Für nachhaltige Lösungen braucht es zwingend die breite, pragmatische Mitte. Es braucht die Konfrontation mit der Realität, die auf Fakten und auf den aktuellsten Erkenntnissen der Wissenschaft basiert. Ideologien, ob von ganz rechts oder von ganz links, sind nie demokratisch. Aber es braucht Menschen, die für ihre Gesinnung einstehen. Gerade in einer Demokratie. Denn nur die kontroverse Auseinandersetzung mit den Antipoden bringt uns weiter. Im Denken und auf der Suche nach der besten Lösung. Wobei hier anzuführen ist, dass ich von politischen Haltungen und nicht von irgendwelchen unqualifizierten Meinungen rede, und schon gar nicht von der dümmlichen Behauptung, Demokratie bestehe in der Freiheit, jede Meinung, und sei sie noch so diffamierend und diskriminierend, als politisch legitimiertes Argument gelten zu lassen.

Ich denke: (Echte) Demokratie ist das anspruchsvollste, aber einzig denkbare, freiheitliche System. Anspruchsvoll, weil es bedeutet, unterschiedliche Meinungen auszuhalten, die man tolerieren muss, ohne sie zu akzeptieren. Einzig denkbar, weil nur eine echte politische Auseinandersetzung zur besten Lösung führt. Freiheitlich, weil Lösungen nur dann nachhaltig sind, wenn sie pragmatisch gefunden werden. Anders gesagt, wenn Lösungen nicht – von wem auch immer – oktroyiert, sondern im Konsens entstanden sind, der die unterschiedlichen Bedürfnisse berücksichtigt. In gegenseitigem Respekt. Unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten aller Individuen, aber auch unter Berücksichtigung des Gemeinwohls, das sich manchmal im Widerspruch zu den Einzelinteressen befindet. Beides in Einklang zu bringen ist das Herausfordernde, aber auch die wahre Stärke der Demokratie. Und ganz besonders der direkten Demokratie. Auch wenn der Weg manchmal mühsam ist, Rückschläge und Umwege beinhaltet und vielleicht etwas länger dauert.

So sehe ich das.

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Heute, in Coronazeiten, wäre es manchmal wünschenswert, wenn das Zuständigkeitsgerangel zwischen Regierung und Parlament, zwischen Bund und Kanton und zwischen den einzelnen Departementen etwas zügiger einer einheitlichen Lösung Platz machen würde. Zumindest da, wo es Sinn macht. Aus Vernunftgründen. Aber Vernunft und Politik sind bekanntlich nicht immer dasselbe. Mich ärgert auch, dass die in den Medien zum Ausdruck gebrachte Kakofonie nicht den Verursachern, sondern den Überbringern der schlechten Nachricht angelastet wird. Im Mittelalter wurden diese geköpft. Heute nur noch diffamiert. Immerhin.

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Ambivalenz – Demokratie – Medien, das alles hängt für mich in einer Linie zusammen.

Als Chefredaktorin bin ich jedes Mal hellhörig geworden, wenn wir zuviel Zustimmung von einer Seite bekamen. Glaubwürdig als Zeitung waren wir dann, wenn wir eine mittlere Unzufriedenheit erreichten, das heisst, wenn durch unsere Berichterstattung oder einordnenden Kommentare sich niemand im alleinigen Recht bestätigt, und niemand sich ins alleinige Unrecht versetzt fühlen konnte. Wenn wir bei den Fakten und nur bei den Fakten blieben. Wenn wir es schafften, eine kontroverse, weiterführende Diskussion auszulösen.

Mit der polarisierenden Blasenbildung in den sozialen Medien hätte die Bedeutung eines unabhängigen Journalismus eigentlich zunehmen müssen. Eines Journalismus, der niemandem verpflichtet ist, weder den Behörden noch der Politik noch der jeweiligen politischen Haltung der Leserschaft. Niemandem, ausser der Wahrheit. Womit hier die recherchierten und erhärteten Fakten gemeint sind. Eines Journalismus, der frei und ohne Schere im Kopf die Realität abbildet, und der inhaltlich über den Rendite-Interessen des Verlages und seinen Aktionären steht. Der nicht permanent dazu gezwungen ist, Aufmerksamkeit zu erzeugen, um schneller als die Konkurrenz zu sein.

Dazu bräuchte es aber die Bereitschaft der Leserschaft, die unabhängige Information als ein wichtiges, demokratisches Gut zu erkennen und dafür entsprechend zu bezahlen. Ich fürchte, vielen Menschen ist das nicht mehr bewusst. Im Gegenteil.

Für Journalistinnen und Journalisten wird es immer schwieriger, ihre Glaubwürdigkeit zu beweisen. Ihre Arbeit und ihre Kompetenz werden in Zweifel gezogen, nicht zuletzt von rechtsnationalen Populisten, die von Demokratie reden, aber Antidemokraten sind, die gezielt die Glaubwürdigkeit der Medien untergraben, um danach ihr eigenes Narrativ in die Köpfe zu pflanzen. Was ihnen auch gelingt. Schon plappern viele Leute einander gebetsmühlenartig nach, «die» Medien seien alle sensationslüstern und würden bloss Fake News verbreiten. Sie prüfen nicht, ob das stimmt, sie differenzieren nicht zwischen den verschiedenen Medien und ihrer jeweiligen Aufgabe, sie wissen nicht, was der Begriff «Medien» beinhaltet und wollen es auch gar nicht wissen. Sie begnügen sich damit, die Vorurteile der eigenen Blase zu pflegen und sich bestätigt zu fühlen. Manchmal aus Unwissenheit, oft aus Denkfaulheit. Was nicht nur die seriösen Medien, sondern langfristig auch die Demokratie beschädigt. Womit wir wieder am Anfang der Fragestellung angelangt wären.

Ich bin froh, bin ich raus.

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