Samstag, 12. September 2020

Kirche und Kunst

Gedanken in der Notre-Dame von Paris

Ich bin gerne in diesen grossen Kulturdenkmälern, egal wo, und lasse mich inspirieren, von der Geschichte, die sie beinhalten, von der Atmosphäre, die sie ausstrahlen. Ich geniesse den Raum, die Grösse, die Ruhe, die Schönheit, aber es sind keine religiösen Gefühle dabei, auch wenn diese Bauwerke im Namen der Religion entstanden sind.  

Zur Besichtigung einer Kirche gehören normalerweise auch die darin versammelten sakralen Kunstwerke. Aber so gross mein Respekt vor dem künstlerischen Wert eines Werkes ist: Wirklich berührt werde ich in den seltensten Fällen, die Bilder sind mir zu fremd. Selbst die berühmten, wie beispielsweise die Assunta von Tizian in der Frari-Kirche in Venedig. Die Darstellung einer Madonna, die gen Himmel fährt, vom gekreuzigten Jesus und von der heiligen Maria mit dem Kind, von Zorn, Strafe, Vergebung Gottes, von Himmel und Hölle, von elenden Sündern, die in der Verdammnis landen und von verklärten Gottesanbetern stösst mich ab. Ich muss mich zwingen, geistig zu abstrahieren, muss mir sagen, dass es Auftragswerke sind, erschaffen zu einer Zeit, als die Menschen noch keinen Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen hatten.

Meine Distanz zur sakralen Kunst hat mit meiner Abneigung gegenüber der Kirche als Institution zu tun. Und mit meiner persönlichen Geschichte. Mein Weg aus einem freikirchlichen Milieu über die selbst gewählte Konfirmation in der reformierten Kirche bis zum Austritt war ein langer und nicht immer einfacher Ablösungsprozess. Kaum etwas ist so tief verankert wie die von den Eltern geprägte, religiöse Vorstellung, die das Kind schon im frühesten Alter unbewusst «aufsaugt». Nach meinem Austritt aus der Kirche begnügte ich mich lange damit, Agnostikerin zu sein. Heute bin ich Atheistin. Als folgerichtige Konsequenz.

Ich höre oft, ohne Religion gebe es keine Moral. Dieser Meinung bin ich nicht. Nicht die Moral ist das Entscheidende. Auch nicht die religiöse. Die Moral unterliegt der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung und ist dem Wandel der Zeit unterworfen. Und oft handelt es sich bei der vermeintlichen Moral lediglich um den kleinlichen Moralzeigefinger, mit dem jemand, der nicht der Norm entspricht, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird.

Ich denke: Allgemein gültigen Bestand kann nur eine Ethik haben, die auf der Basis der Vernunft definiert wird. Auf einen einfachen Nenner gebracht: Die Erkenntnis, dass wir Menschen alle die gleichen primären Bedürfnisse und Sehnsüchte haben, dass wir letztlich alle im gleichen Boot sitzen und aufeinander angewiesen sind. Und dass wir deswegen einen Weg finden müssen, wie wir unser Zusammenleben am besten organisieren, so, dass jeder zu seinem Recht und niemand zu Schaden kommt oder diskriminiert wird.

Was mich ärgert: Gerade die kirchliche Macht, welche die Moral selbstgerecht für sich gepachtet hat, verhindert mit ihrer rückständigen Engstirnigkeit, dass Menschen lernen, respektvoll und vernünftig miteinander umzugehen.

Der Philosoph, Humanist und Atheist Michael Schmidt-Salomon stellt in seinem Buch «Jenseits von Gut und Böse» folgende Fragen: «Was wäre, wenn uns gerade die Unterscheidung von Gut und Böse ins Unglück stürzte? Wenn wir ohne Moral die «besseren» Menschen wären? Und wenn wir uns von der Idee der Willensfreiheit lösen müssten, um den «blinden Instinkt der Rache» zu überwinden?» Von ihm stammt auch das «Manifest des evolutionären Humanismus», einem «Plädoyer für eine zeitgemässe Leitkultur», darin enthalten die «zehn Angebote», Spielregeln für ein ethisch verantwortliches menschliches Miteinander auf dem Fundament wissenschaftlicher Erkenntnis.

Mir ist klar, dass Religiosität oder Spiritualität für viele Menschen ein zentrales Bedürfnis ist. Auch wenn ich mich ab und zu wundere, wie selbst Intellektuelle manches aus der Bibel wörtlich auffassen, was heute nur noch sinnbildlich nachzuvollziehen ist. Wenn überhaupt. Noch mehr wundere ich mich allerdings über die vielen selbstgebastelten esoterischen Abstrusitäten, die auch noch geglaubt werden. Gerade grassieren wieder zahlreiche Verschwörungstheorien, wie immer in unsicheren Zeiten. Bei allem Verständnis für die jeweilige persönliche Ursache: Hier hilft nur eine klare und eindeutige Gegenposition. Nicht zuletzt in der Verteidigung der Wissenschaft, die von einer zunehmenden Zahl von Menschen bestritten wird, weil auch die Wissenschaft keine abschliessenden Antworten liefert. Bildung besteht unter anderem darin zu lernen, mit den Verunsicherungen und Ambivalenzen des Lebens zu leben. Sie ist ein Mittel gegen die Irrationalität.

Irrational ist allerdings auch, den künstlerischen Wert sakraler Kunst nicht von ihrer bildlich dargestellten Aussage zu abstrahieren. Ich weiss das. Trotzdem: Es gelingt mir nicht. Weil diese Darstellungen mich jedes Mal daran erinnern, was die Religion als Instrument der Mächtigen in Kirche und Staat für Schaden angerichtet hat im Lauf der Geschichte. Und es noch heute tut. Wenn ich an die gesellschaftliche Rückständigkeit des Vatikans, an die rassistischen Evangelikalen in den USA oder an den politischen Islam denke, werde ich wütend.

Aber das ist ein anderes Thema.

 

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