Samstag, 12. September 2020

Keine Lösung ohne Konsens

Bei einem Besuch am Checkpoint Charlie in Berlin wurde mir wieder mal bewusst, mit welcher Härte und sektiererischen Verbissenheit das DDR-Regime seinen sozialistischen Machtapparat einsetzte – gnadenlos bis zum Schluss. Ich bewundere noch heute den Mut der Menschen, die für die Freiheit ihr Leben riskiert und oft auch verloren haben. Und ich schäme mich für die Naivität, mit der wir damals für eine idealisierte kommunistische Gesellschaft auf die Strasse gingen, ohne auch nur die geringste Ahnung von der Realität zu haben. Wenn jemand anderer Meinung war, fanden wir ihn dumm und rückständig und dachten, wir wüssten es besser. Was mindestens genauso dumm war.

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Obwohl wir damals verblendet waren in unserem idealistischen Eifer, die Welt zu verbessern, so hat diese Zeit – zumindest für mich – trotzdem einen enormen Wert. Für mich war es eine Denkschule, ohne die ich vielleicht nie gelernt hätte, die Dinge nicht nur aus der eigenen, sondern auch aus einer gegenteiligen Perspektive zu analysieren. Ohne die ich womöglich nie gezwungen gewesen wäre, meine Wertvorstellungen, mit denen ich aufgewachsen bin, zu hinterfragen. Die 68er erweiterten meine Sicht auf die Welt. Dafür bin ich sehr dankbar, auch wenn ich heute viele Ansichten nicht mehr teile.

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Die Langzeitfolgen des Zusammenbruchs des DDR-Regimes, aber auch die Fehler, die der Westen nach der Wende gemacht hat, wirken bis heute nach. Die Menschen mussten viel zu viel auf einmal verkraften, nicht nur ihr marodes sozialistisches System ist praktisch über Nacht zusammengebrochen, für viele auch der Glaube daran. Vom neuen, kapitalistischen, das ihnen der Westen selbstherrlich aufgezwungen hat, profitierten nicht sie, sondern in erster Linie die Investoren aus dem Westen. Die Demütigungen, die Brüche in den Lebensläufen, die damit verbunden waren, gehören zweifellos mit zu den Ursachen für die heutige Affinität des Ostens gegenüber der rechtsextremen AfD. Es wäre zu einfach, diese Menschen zu verurteilen, schon gar nicht aus der Sicht einer privilegierten Generation des Westens, die wir in einer Zeit gelebt haben, in der es immer nur aufwärts ging. Aber genauso falsch ist es, ihnen damit indirekt Recht zu geben, wie das manche Politikerinnen und Politiker in ihrem Opportunismus tun. Denn die AfD ist eine rechtsextreme Partei. Dagegen hilft nur die klare und eindeutige Gegenposition.

Eine gerechte Welt zu schaffen ist eine Illusion, wie man irgendwann im Leben begreift. Trotzdem: Historisch gesehen war die Kurve bisher tendenziell steigend, bei allen Rückschlägen.

Heute besteht die Gefahr, dass die Menschheit die Grundlagen ihrer Existenz nachhaltig zerstört. Wir werden immer mehr Menschen auf dieser Welt und verbrauchen immer mehr Ressourcen, Arbeitsplätze gehen verloren, der Solidaritätsgedanke nimmt ab- und der Verteilkampf zu. Die Schere, nicht nur zwischen arm und reich, auch zwischen Mittelstand und Superreichen, klafft schon jetzt fast pervers weit auseinander, Natur und Umwelt leiden, das Klima verändert sich. Die Folgen sind absehbar, werden aber aus dem Bewusstsein verdrängt.

Zu glauben, es gebe eine bestimmte Ideologie als taugliches Rezept, ob von rechts oder links oder von wo auch immer, womit die Probleme der Zukunft zu lösen seien, ist eine Illusion. Ideologien funktionieren in der Theorie, aber sie ignorieren den Faktor Mensch. Und oft auch ganz schlicht die Realität.

Ich denke: Bei der Suche nach einer nachhaltigen Strategie geht es primär um eine genaue, sachliche Definition des Problems und um die Frage nach den für die jeweilige Lösung zuständigen Kompetenzbereiche, also auch um das Auseinanderhalten von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Für mich ist klar: It’s the economy, stupid. Sie schafft die existenzsichernde Grundlage, die Politik ist für den gesetzlichen Rahmen und für die Verteilung des Mehrwerts zuständig. Je nach Wertesystem einer Gesellschaft ist diese Verteilung gerechter oder weniger gerecht. Danach sollte man entscheiden und handeln.

Wovon wir damals geträumt hatten, nämlich, dass in einer demokratisch organisierten Gesellschaft die Politik das Primat vor der Wirtschaft übernehmen könnte, ist eine idealistische Sichtweise. Wo die Politik das Primat übernimmt entsteht eine staatlich gelenkte Wirtschaft. Allein schon der Gedanke ist absurd in einer Demokratie. Eine Illusion ist es auch zu glauben, dass eine staatlich gelenkte Wirtschaft besser in der Lage wäre, eine gerechtere Welt zu schaffen. Wäre das so, wären alle Christen gute Menschen und der Kommunismus hätte das Verteilproblem für alle Zeiten «gerecht» gelöst. Theorien helfen mit, bestehende Systeme und ihre Denkmuster zu hinterfragen und erfüllen damit eine wichtige Funktion auf der Suche nach einer nachhaltigen Lösung. Diese kann aber nur auf dem pragmatischen Boden der Realität gefunden werden.

Eine reale Gefahr für die Demokratien Europas bedeutet das zunehmende geopolitische Machtstreben der Autokraten. Putin und Erdogan sind reine Machtpolitiker, die nicht mit ethisch-moralischen Argumenten zu überzeugen sind. Hier wird sich zeigen, ob Europa in der Lage sein wird, einerseits als geeinte Wertegesellschaft zu bestehen und sich andererseits als selbstbewusster, wirtschaftlicher und politischer Machtfaktor ins Spiel zu bringen.

Ich denke: Die Welt verändert sich immer schneller, und um die Herausforderungen der Zukunft zu lösen, braucht es zweifellos mehr politische Weitsicht und neue Denkansätze, wie sie beispielsweise der französische Ökonom Thomas Piketty beschreibt. Bis jedoch die politische Basis für die Umsetzung geschaffen ist, vergehen voraussichtlich noch Jahrzehnte. Es sei denn, eine weltweite Katastrophe zwingt zu schnellerem Handeln. Corona reicht dazu nicht, wie wir jetzt schon wissen. Auch wenn die Verwerfungen dieser Pandemie noch sehr lange dauern und ihre weltweiten Nachwirkungen vermutlich sehr viel dramatischer sein werden, als es im Moment aussieht.

So sehe ich das.

 

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