Samstag, 12. September 2020

Altern

Im Spiegel blickt mir ein Gesicht entgegen, das im Begriff ist, seine Vergangenheit preiszugeben und den unbeschwerten Glauben an die Zukunft zu verlieren. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Wofür? Wozu?

Die Leute sagen, alt werden sei schön. Ich betrachte meinen Körper, der nicht mehr zur Vorstellung gehört, die ich von mir habe, den in Stand zu halten immer mehr Aufwand benötigt. Wie wucherndes Unkraut überziehen ihn braune Altersflecken und dünne rote und dicke blaue Äderchen und verleihen ihm den Charme einer verlassenen Kiesgrube. Die Zellen sind es leid, sich immerfort regenerieren zu müssen, sie machen sich selbständig, statt zu Muskeln versammeln sie sich zu Fettklumpen, die so bitter zu ertragen sind wie die Haut schmeckt, nach der sie genannt sind. Mit 60 ist die Zeit der Selbsttäuschung vorbei. Der Körper zerfällt in wenige noch und in viele nicht mehr vorzeigbare Teile, die Falten sind nicht bloss das erste Erschrecken einer Vierzigjährigen und auch nicht mehr die Koketterie einer Fünfzigjährigen, sie sind da als Zeichen des Zerfalls, der nicht mehr aufzuhalten ist. Was sollte daran schön sein?

Sie reden von der Würde des Alters. Ich denke an die täglichen Demütigungen, die vielen, kleinen Hiebe, die verletzen, denen wir Frauen besonders ausgesetzt sind, weil wir zulassen, dass unser Alter zum Makel wird und wir uns selbst zu hassen beginnen, weil wir dem Anspruch nicht mehr genügen, den die Gesellschaft und wir selber an uns stellen. Wir machen uns vor, wir fühlten uns jung und könnten nochmals ganz von vorne beginnen, dabei wissen wir, dass es nicht so ist. Wir stören, weil wir immer älter werden, unser Anblick wird zur Zumutung, wir kosten nur noch, wenn wir krank werden, wir müssten uns rechtzeitig umbringen, damit sich unser Gewissen wieder beruhigt und wir nicht mehr auf Kosten der Jungen die Vermögen aufbrauchen, die für die kommenden Generationen nicht mehr da sein werden. Was ist daran würdevoll?

Sie preisen die Weisheit des Alters. Welche Weisheit? Zu wissen, dass wir besser den Mund halten, weil niemand mehr hören will, was wir zu sagen haben, weil alles anders ist, als wir es noch erlebt haben? Wir wissen um unseren Tod und suchen verzweifelt nach dem Sinn unseres Noch-Daseins, der uns abhanden gekommen ist, wir flüchten in spirituelle Selbsterfahrung, bilden uns ein, wir könnten die Antwort in uns finden und tun so, als seien wir abgeklärt und setzen die Maske der inneren Zufriedenheit auf und sagen, es gehe uns gut, was aber nicht stimmt. Lieber ziehen wir Gott aus der Schublade mit den abgelegten Akten hervor, als dass am Ende alles aus ist, und nennen ihn geistige Kraft oder Göttin oder universelle Macht. Was hat das mit Weisheit zu tun?

In unserer Gesellschaft haben das Alter seine Würde und die Alten ihren Stolz verloren - und die jungen Menschen den Respekt. Die Jungen wissen noch nicht, dass der Tod hinter der nächsten Hausecke lauert und jederzeit hervortreten kann, bevor wir unser Leben in Ordnung gebracht haben, bevor wir alle die Orte gesehen haben, auf die wir noch neugierig waren, bevor wir alle Dinge getan haben, die wir noch tun wollten.

Warum nehme ich den jungen Menschen eine Chance, wenn ich noch nicht alt sein will? Ich mache nicht ihre Mode mit, höre nicht ihre Musik und gehe nicht in ihre Lokale, ich dringe nicht in ihre Welt ein und bilde mir auch nicht ein, ich sei dort willkommen.

 

 

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