Dienstag, 3. November 2009

Lissabon Februar 2009

Im unterkühlten Lokal warte ich auf einen Kellner, der sich vielleicht womöglich irgendwann mal nach meinen Wünschen erkundigt. Über den Bildschirm des Fernsehers flackern tonlose Bilder, aus einem Lautsprecher singt eine junge Frauenstimme auf Portugiesisch, vermutlich einen Schlager, zwei vereinzelte Gäste sitzen vor ihrem Bier, neben mir an der langen Theke essen Angestellte schweigend eine Art Eintopf. Es ist kurz nach halb sieben. Ich bin zu früh, hier isst man erst spätabends, ich weiss, aber ich habe Hunger und muss etwas im Magen haben, bevor ich meinen Begleiter treffe. Noch bis übermorgen ist er hier, beruflich, danach fliegt er zurück, ich werde noch bleiben, für heute Abend hat er Karten besorgt für das War Requiem von Benjamin Britten im Grande Auditorio Gulbenkian.

Lissabon ist mein erstes, bewusst gewähltes Ziel nach der Pensionierung. Da wollte ich schon immer hin. Mit der Swissair flogen wir viele europäische Städte an, von den meisten hatte ich zumindest einen flüchtigen Eindruck, wenn auf unseren Rotationen irgendwo ein Nightstop eingeplant war, in Madrid, Helsinki, Manchester oder Budapest. Aber in Lissabon war ich noch nie. Nachdem ich Pascal Merciers «Nachtzug nach Lissabon» gelesen, fast verschlungen hatte, gleich nachdem das Buch erschienen war, bin ich noch neugieriger geworden.

Mein Reiseführer-Portugiesisch reicht nicht aus, um auch nur annähernd zu erahnen, worum es sich bei den Speisen auf der Menukarte handelt. Der Kellner kann zum Glück ein wenig Englisch. Ich erkläre ihm, dass ich nur etwas Leichtes essen möchte, er zeigt auf ein Tagesmenu auf der Karte und sagt etwas, was ich nicht ganz verstehe, Steak, Veal, Lamb...?, fragt er. Lamb?! Ja, das tönt gut, bringen Sie mir einen Salat mit einem Lammkotelett, will ich sagen, aber er hört mir schon nicht mehr zu, lächelt triumphierend, ich werde sehen, es werde mir bestimmt schmecken. Dann rät er mir noch, den Salat besser wegzulassen, was ich etwas verwundert ablehne, worauf er sich achselzuckend umdreht und durch die Schwingtüre in die Küche verschwindet.

Was der Kellner mir empfohlen hat, stellt sich als derselbe Eintopf heraus, den die Angestellten gegessen hatten, eine Art Irish Stew, Kartoffeln und Lammstücke mit viel Knochen und Fett, in einer Tomaten-Zwiebelsauce gekocht, serviert in einer verbeulten Alupfanne, bei den Portugiesen ein beliebtes Gericht, wie mir der Kellner verrät, den Namen des Gerichts vergesse ich nachzufragen. Die Portion ist viel zu gross, mehr als die Hälfte gebe ich zurück, den Salat, so üppig wie eine Mahlzeit, hätte ich tatsächlich besser weggelassen.

2. Tag, gegen Mittag, im Café Museu Fundação Calouste Gulbenkian

Die Morgensonne spiegelt sich im Teich des Parque de Palhava und wärmt die Terrasse des Selbstbedienungsrestaurants langsam auf. Eben habe ich mir die Sammlung im Gulbenkian-Museum angesehen. Als Verlegerin und Freundin hat Yvonne-Denise mir geraten, kein enzyklopädisches Wissen aufzuschreiben, also nichts von dem, was man googeln oder in jedem Reiseführer lesen kann, also lasse ich es, obwohl die Geschichte dieses Calouste und seiner Kunstsammlung wirklich ziemlich aussergewöhnlich ist.

Ich ging früh los heute Morgen. Während des Aufstiegs durch den Parque Eduardo VII kostete ich das Gefühl aus, einfach nur hier zu sein und zu geniessen. Oben blieb ich stehen und verdrückte verstohlen eine Träne beim Anblick auf die Stadt, die sich im kühlen Morgenlicht vor mir ausbreitete und rechts und links die Hügel hinaufkroch, während geradeaus im Hintergrund die Dunstschwaden aus dem Tejo aufstiegen. Einfach nur schön. Der Tag, die Aussicht, das Gefühl, unabhängig und frei und ohne jede Verpflichtung zu sein. Kein Druck mehr, keine Verantwortung, ich habe es noch keine einzige Sekunde bereut, mich früher pensionieren zu lassen, um vielleicht doch noch den Roman zu wagen, den ich seit 20 Jahren mit mir herumtrage, den Versuch, die Ambivalenz in Worte zu fassen. Keine Ahnung, ob ich das kann und ob das überhaupt möglich ist.

*

Das Museum öffnete um zehn, das liess mir Zeit, die verschlungenen Wege des Parque de Palhavã entlang zu schlendern, ganz langsam, jede Sekunde geniessend zwischen tropischen Bäumen und Sträuchern, an lauschigen Ecken, Wasserläufen, kleinen Teichen und Skulpturen vorbei bis zu einem kleinen Amphitheater in der Mitte, wo die Leute vor der Arbeit ihre Zeitung lesen und sich von der Sonne wärmen lassen. Eine Oase der Ruhe, die sich ganz unerwartet auftut. 

Schon der erste Raum mit der 3000 Jahre alten Maske eines Pharaos aus Obsidian liess mich vor Ehrfurcht erschauern. Die Schätze sind kaum aufzuzählen, Münzen, Töpfereien, Teppiche, Fayencen, Kacheln, Objekte aus Porzellan, Elfenbein, Alltags- und religiöse Kultgegenstände, handgeschriebene und -gemalte Bücher, Möbel, Bilder... Ich betrachtete diese Kostbarkeiten von unermesslichem Wert und einer zeitlosen Schönheit, die jede Grausamkeit der Geschichte überdauert.

Zur Gulbenkian-Stiftung gehört das Auditorium, wo wir gestern Brittens War Requiem gehört haben. Mir schien, als hätte ich noch nie einer so traurigen Musik voll verzweifeltem Schmerz zugehört. Die Intensität dieses Werks hat mich tief berührt, auch wenn mir Britten nicht so vertraut ist, vielleicht, weil ich meistens dann ins Konzert gehe, wenn Musik gespielt wird, die ich bereits kenne und liebe. Ich nahm mir vor, mich vermehrt wieder auf Neues einzulassen. Neben mir beantwortete eine jüngere, attraktive Frau während des ganzen Konzerts sms, die von Zeit zu Zeit fast im Minutentakt surrend aufblinkten, mich amüsierte die Vorstellung, wie in einem solchen Fall die älteren Damen und Herren in der Tonhalle sich empört danach umgedreht hätten, gleichzeitig nervte es mich, es störte meine Konzentration beim Zuhören, ich fand es respektlos und wunderte mich, dass offenbar niemand ausser mir sich darüber ärgerte.

Gegen Abend, im Park vor der Estufa Fria

Vor mir glänzt der grosse künstliche Weiher im kleinen, sorgfältig gepflegten Park, versteckt am Fuss eines kleinen Abhangs seitlich des Parque Eduardo. Ich sitze hier ganz allein und ungestört, nur in Gesellschaft einer Schar Enten, Gänse und Hühner, die aufgeregt miteinander schnattern, und lese meine Notizen. Für heute habe ich genug. Tut gut, sich in dieser stillen – na ja, nicht ganz stillen – Oase von der Hektik der Stadt zu erholen.

Museu de Arte Moderna: Sonderausstellung mit Werken von Heimo Zobernig, einem 1958 geborenen Künstler aus Wien, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Seine Kunst ist für mich erklärungsbedürftig. Aber das liegt wohl eher an meinem mangelnden Sachverständnis. Als Laiin ist es nicht immer leicht, Kunst als solche zu erkennen.

Corte Inglés: Grösstes Warenhaus von Lissabon. Letztlich unterscheidet es sich kaum von Jelmoli oder Globus, vielleicht etwas weniger gediegen, aber mit vergleichbarem Angebot. Von Emporio Armani sah ich ein verführerisches Jäckchen, worauf eine 50prozentige Preisreduktion angeschrieben stand. Ich dachte, dass ich es mir vielleicht leisten könnte, aber als ich das Schild drehte, betrug der halbe Preis 1500 Euro. Nichts für Durchschnittsverdiener. Nicht einmal für mich, die ich aus der reichen Schweiz komme.

Die meisten Menschen hier sind freundlich und zuvorkommend und sprechen Englisch. Die Verständigung ist – zumindest bis jetzt – mit wenigen Ausnahmen kein Problem gewesen.

Lisboa, die Stadt der sieben Hügel, hat mich in ihren Bann gezogen. Jetzt, mitten im Februar, ist es 18 Grad warm und der Himmel stahlblau und klar – der Frühling liegt förmlich in der Luft.

3. Tag, morgens, Café Nicola beim Rossio

Es ist angenehm frisch, aber nicht zu kühl hier draussen, an einem der Tische des Art Déco-Cafés Nicola, von wo ich auf den Rossio blicke mit seiner wunderschönen wellenförmigen Pflästerung, laut Reiseführer nicht nur der schönste Platz, sondern auch einer der beliebtesten Treffpunkte der Lissabonner. Das Leben hier erinnert mich an meine Jugend in Bern, wo wir oft Abende lang vor dem Grotto am Bärenplatz zusammensassen, die Passanten begutachteten und darüber diskutierten, wie wir die Welt verbessern wollten. Es war eine intensive Zeit damals, wir waren engagiert, glaubten an unsere Mission, wir wollten alles verändern und kämpften für Gerechtigkeit, wie wir sie verstanden. Und es war die Zeit, als ich gefangen war in meiner ersten, vollkommen verblendeten Liebe zu dem Mann, der mein Selbstwertgefühl zerstört hat, das ich mir mühsam wiederaufbauen musste. Es hat Jahre gedauert. Manchmal denke ich, dass ich nie die geworden bin, die ich hätte sein können.

Hier sitzen kaum Touristen, wie ich befriedigt feststelle, die Gäste sind Portugiesen, fast nur Männer, meist ältere, die hier ihren Kaffee trinken und ihre Zeitung lesen. Überhaupt gehören die Cafés hier noch zum Lebensstil. Ich kann nur hoffen, dass man nicht die gleichen Fehler machen wird wie in der Schweiz, wo viele solcher traditionsreicher Lokale zu Tode modernisiert und ihrer unvergleichlichen Atmosphäre beraubt wurden.

Beim freundlich blickenden Kellner bestelle ich primeiro um cappuccino e depois uma bica e um copo do água natural. Ob er mein holpriges Portugiesisch versteht, ist ihm nicht anzusehen, aber er nickt, dreht sich um und bringt mir schon nach kurzer Zeit tatsächlich zuerst den Cappuccino, und als ich diesen getrunken habe, räumt er sogleich die leere Tasse ab und stellt mir den Espresso samt Wasser hin. Wirklich sehr aufmerksam.

Gestern fuhren wir ins Museu Colecção Berardo im Centro Cultural de Belém, das bis spätabends geöffnet hat. An der Praça do Império in Belém stiegen wir aus. Der Platz macht seinem Namen alle Ehre. Selbst im schwachen Licht des Sternendachs vermittelte die nur noch in Konturen erkennbare Anlage den Eindruck imperialer Weitläufigkeit.

Im MCB versammelt sich die Kunst grosser Namen, vergleichbar mit den Werken in anderen wichtigen Museen. Neu und beeindruckend waren für mich zwei Video-Performances, eine reglose, in sich versunkene Tischrunde nach üppiger Mahlzeit, über deren Reste die Kamera fast im Zeitlupentempo wandert, zugleich schön und abstossend, dazu Musik von Bach; eine Art Stillleben einer übersättigten, ganz auf sich bezogenen Wohlstandsgesellschaft, eindringlicher noch als die Eat-Art Daniel Spoerris. Faszinierend auch das lebendige Innenleben einer Pflanze als farbig glänzender Strom, der sich in der langsam herangezoomten Nahaufnahme als das hektische Treiben der Menschen erweist. Der Künstler mit der Pflanze war, glaube ich, ein Tscheche, die Künstlerin mit dem Stillleben eine Bielerin, die in Brüssel lebt, ich habe vergessen, die Namen aufzuschreiben.

Eine Sonderausstellung war der portugiesischen Malerin Maria Helena Vieira da Silva gewidmet. Ihre Bilder sprachen mich an, formal und inhaltlich – aber vor allem mochte ich sie, weil sie meinem ästhetischen Empfinden entsprachen. Ich fand sie schlicht und einfach schön. Was Bendicht vermutlich zu zynischen Bemerkungen über mangelnden Kunstsachverstand veranlasst hätte, seiner Ansicht nach darf Kunst nicht nach ästhetischen Kriterien beurteilt werden. Wenn ich mich richtig erinnere, sagte er sogar, das landläufige Harmonieempfinden habe in der Kunst nichts verloren. Ich weiss nicht genau, wie er es meinte. Vielleicht dachte er an die Leute, die Kunst nur als farblich passende Dekoration für ihre Wände kaufen.

Auf dem Nachhauseweg fuhren wir mit der Electrico bis zur Praça do Comércio und gingen zu Fuss über die Rua Augusta zum Rossio und weiter zur Avenida da Liberdade. Beeindruckt war ich vom Jugendstil-Bahnhof Rossio, mit den gebogenen, schmiedeisern verzierten Eingangstore. Sie sind von solch nobler Eleganz, wie sie nur noch in der nostalgischen Aura schon leicht vergilbter Grand-Hotels der Jahrhundertwende anzutreffen ist, wo sich die Damen Buddenbrook und Wesendonck ihre im Überfluss vorhandene Zeit – bezahlt von ihren vom ausbeuterischen kolonialen Handel reich gewordenen Männern – mit Konversation vertrieben und dabei ihre Töchter und Söhne zwecks Anhäufung noch grösseren Reichtums und Macht innerhalb der immer gleichen weit verzweigten Familien verkuppelten.

Am Nachmittag, im Zug nach Estoril

Der Zug fährt dem Tejo entlang durch die Vororte Lissabons westwärts ans Meer und hält an jeder Station. Ich bin unterwegs zu Cathrin. Wir treffen uns in Estoril. In meinem Abteil sitzt ein quengelndes Kind. Der etwa zwei Jahre alte Junge ist offensichtlich zum Umfallen müde, aber es gelingt ihm nicht, den Schlaf zu finden. Ich fühle mit der Mutter, die mit liebevollem Zureden und viel Ablenkungsmanövern alles tut, um den Jungen einigermassen ruhig zu halten. Der Vater sitzt gegenüber und spricht alle zehn Minuten ein lautes Machtwort, was noch viel weniger nützt. Ich lese meine unterwegs notierten Eindrücke:

Elevador de Santa Justa:  Gestern Nacht schien mir die beleuchtete filigrane Eisenkonstruktion eleganter und leichter als jetzt am Tag. Eine Schaffnerin kassiert beim Eingang das Fahrgeld und sorgt dafür, dass nicht zu viele Leute den Lift überfordern, die Zeit scheint stillzustehen in den beiden dunkel getäferten Kabinen, welche die Passagiere langsam nach oben ruckeln.

Rundsicht von der Plattform: Die obere Plattform bleibt im Februar geschlossen, eine Kette versperrt den Zugang. Leider, denn das Maschengitter der unteren Plattform schmälert meinen ungetrübten Genuss des Rundblicks auf die Stadt in kachelweiss bis hellem Terracotta, links die schnurgerade Avenida da Liberdade und der Parque Eduardo, die sich zwischen den Häusern wie ein breites, grünes Tal nach oben am Horizont verlieren, rechts quer dazu der Tejo, der sich in Erwartung seiner baldigen Vermählung mit dem Meer immer mehr ausweitet und sich mit dem trüben Blau des Himmels vermischt, im Hintergrund noch knapp erkennbar die vom Dunst weichgezeichnete Ponte 25 de Abril, geradeaus, auf gleicher Höhe wie die Plattform, die mächtige Mauer mit den gezackten Türmen des Castelo de São Jorge, in der Tiefe dazwischen die Baixa, der zwischen der Praça do Comércio und dem Rossio streng geometrisch gebaute Altstadtteil, dessen schnurgeraden Längs- und Querstrassen sich von so hoch oben wie ein Stadtplan lesen lassen.

Blick hinter die Kulissen: Über den Eisensteg, der den Elevador mit dem Chiado verbindet, vorbei am einladenden Plätzchen Largo do Carmo, durch kleine Gässchen schräg den Hügel hinauf Richtung Rato. Häuser in erbärmlichem Zustand, verfallen, meist leer, nur noch durch Stahlgerüste zusammengehalten, Trottoirs mit herausgerissenen Pflastersteinen, verlotterte Geschäfte mit verstaubten Auslagen hinter blinden Schaufenstern, ganze Häuserzeilen sanierungsbedürftiger Gebäude.

Der Wohlstand, den Portugal nicht nur, aber nicht zuletzt dank des EU-Beitritts aufbauen konnte, hat längst nicht alle erreicht, profitiert haben, wie immer, vor allem die Privilegierten der Gesellschaft. Ich frage mich, ob der weltweiten Rezession als Folge der Finanzkrise nun eine Depression und eine hohe Inflation folgen, ob nun alles, was sich so gut entwickeln konnte, für lange Zeit gestoppt oder gar rückgängig gemacht, ob nun alle Hoffnungen zerschlagen werden. Auch meine.

                                                           ***     

Nachtrag 2020: Wie wir heute wissen, hat sich die Weltwirtschaft nach der Finanzkrise einigermassen rasch wieder erholt. Auch jetzt, in Coronazeiten, werden wieder viele Hoffnungen zerschlagen. Ich fürchte, dieses Mal wird es schlimmer werden. Für mich persönlich habe ich keine Angst, aber ich mache mir Sorgen um die Zukunft meines Sohnes und seiner Familie. Mein Sohn meint, mein Pessimismus helfe niemandem, und mein Bruder findet auch, man sollte sich grundsätzlich keine Sorgen machen. Denn es komme, wie es komme, und die Menschen würden lernen sich anzupassen, wie sie es immer getan hätten. Wahrscheinlich ist das so. Aber schön wäre es trotzdem zu wissen, dass es den Kindern gut geht.

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4. Tag, morgens, im Café A Brasileira

Ehrfürchtig sitze ich an meinem achteckigen Marmortischchen zuhinterst im Café A Brasileira, wo auch Fernando Pessoa gesessen und sein «Buch der Unruhe» geschrieben hat, das Buch, das Egon mir geschenkt hat, als er hörte, dass ich nach Lissabon fliege, der Verleger aus Leidenschaft, dessen Besessenheit für die Literatur ich immer bewundert habe, weil sie echt war und nichts mit der Bildungsbeflissenheit zu tun hatte, mit der viele Leute nur die von der Literaturkritik empfohlenen Bücher lesen. (Wer jetzt glaubt, ich sage dies als frustrierte Autorin, der täuscht sich. Ich sage das als Leserin und ehemalige Buchhändlerin, die viele gute, lehrreiche, durchaus relevante, von der Literaturkritik ignorierte Bücher kennt, darunter auch ganz viele Krimis.)

Ich liebe es hier. Alles. Die Patina vergangener Zeiten, das dunkle Jugendstil-Interieur mit den deckenhohen, goldgefassten Spiegeln, die Kassettendecke, von deren braunrotem Grund mehrarmige Leuchter und Ventilatoren aus Messing herabhängen, die lange, gerade Theke, die vom Eingang bis ganz nach hinten führt, die Bar mit den aufgereihten Flaschen an der Wand, darüber die Bilder, über deren unterschiedliche Qualität man streiten könnte, gegenüber die Tische mit den schmiedeisernen Füssen, den schwarz-weissen Marmorplatten und den lederbesetzten Holzstühlen, dazwischen der schmale Gang, durch den die Kellner in schwarzen Hosen und weissen Hemden geschäftig hin und her eilen. Unter den Gästen Einheimische und Fremde. Offenbar ist das Café ein beliebter Treffpunkt der Alteingesessenen geblieben, obwohl es in jedem Reiseführer erwähnt ist und – so nehme ich an – täglich Scharen von Touristen anlockt.

Der Abend mit Cathrin war eine neue Erfahrung. Auch wenn ich sie kaum kenne, spürte ich eine Offenheit mir gegenüber, wie sie vielleicht nur unter Frauen möglich ist. Wir setzten uns auf die Steinstufen am Meer, atmeten den salzigen Geruch ein, sahen dem Treiben der Menschen am Strand zu, tranken den Wein und assen den Käse, den sie mitgebracht hatte, unterhielten uns und genossen das langsame Einnachten im Freien. Irgendwie verrückt, an die Küste zu fahren, um eine mir fast unbekannte Frau zu besuchen. Sie ist Musikerin, ich traf sie nach einem ihrer Auftritte in Zürich, kurz darauf hat sie sich mir als Künstlerin empfohlen, als ich für das Programm im Rotary-Club verantwortlich war. Sie ist aus Berlin, sehr selbstsicher, sehr bestimmt, vielleicht ein bisschen zu selbstverliebt, aber ihre Gesellschaft war anregend und ich habe den Abend genossen, das Meer, die salzige Luft, die Ruhe, das leise Zischen der zusammenbrechenden Wellen, die weissen Schaumkrönchen, die langsam ihre weiten Bogen in den Sand malen, um sich gleich darauf wieder versickernd zurückzuziehen.

Heute will ich ins Castelo. Wie ich gesehen habe, ist die Buslinie 37 die direkteste Verbindung von der Praça Figueira ins Castelo São Jorge. Das trifft sich gut. Der Bus ist das letzte öffentliche Transportmittel, das ich noch nicht ausprobiert habe. Zumindest an Land. Die Metro hat mich beeindruckt, sie ist topmodern. Meine Assoziation zu Lissabon verband ich eher mit der alten Electrico, in der ich auf Holzbänken zurück von Belém ins Zentrum fuhr. Oder mit dem Elevador da Glória; kein Lift, wie man aus dem Namen schliessen könnte, sondern eine der drei gelben Standseilbahnen, die in jedem Reisekatalog abgebildet sind.

Nachmittags, im Café Nicola

Beim Castelo bildete sich bereits eine lange Schlange vor der Kasse. Zum Glück war die Burganlage gross genug für die vielen Besucher – ich fragte mich, ob das auch für die Sommermonate gilt, wenn die Stadt vermutlich von Touristen überquillt.

Ich bestieg alle Türme und konnte mich eines gewissen Stolzes nicht erwehren, dass ich dabei nicht einmal gross ins Schnaufen geriet. Die Stufen sind teilweise so hoch, dass ich mir überlegte, wie die Menschen da hochgekommen sind, die damals viel kleiner waren – also etwa so klein wie ich, haha. Aber das Türme erklettern machte Spass und die Aussicht auf die Stadt und den Tejo entschädigte für jede Mühe.

Auf einer beschatteten Steinnische in der Festungsmauer erholte ich mich etwas später von einem Schwächeanfall, der mich ganz plötzlich überfiel. Mir war schwindlig, meine Hände zitterten und meine Knie sackten ein. War das nun dem beginnenden Alter oder bloss der Tatsache zuzuschreiben, dass ich vergessen hatte zu trinken, was allerdings wiederum eine Alterserscheinung sein soll? Ich beschloss, mich bald auf den Rückweg zu machen und in der Nähe der Baixa noch etwas zu essen.

Jetzt überlege ich, was ich als Nächstes unternehmen will. Hier im Nicola kann ich nicht bleiben. Soll ich mit der Metro in die neuen Quartiere der Stadt und dort zum Calatrava-Bahnhof pilgern, soll ich mit der nostalgischen Electrico Nr. 28 in die ursprünglichen Quartiere Alfama und Graça fahren, wo sich laut Reiseführer «das einfache Leben» abspielt, oder soll ich mit dem Tram nach Belém und dort in der Confeitaria eines dieser berühmten Törtchen essen, die in Lissabon offenbar ebenso zum Pflichtprogramm gehören wie der Elevador oder das Castelo?

5. Tag, morgens, im Café A Brasileira

Meiner gestrigen Unentschlossenheit, was ich mit dem angebrochenen Sonntag noch anfangen sollte, hat schliesslich mein Appetit auf Süsses ein Ende bereitet. Also machte ich mich auf nach Belém, um zu kosten, was man mir von verschiedenster Seite auf so eindringliche Weise empfohlen hatte. Eine gute Entscheidung, wie sich bald zeigen sollte.

Vor der Confeitaria dos Pastéis de Belém standen die Leute bis weit auf die Strasse hinaus Schlange. Zwischen den zahlreichen Touristen mindestens genauso viele Portugiesen, ganze Familien, die warteten, bis die Mutter oder der Vater mit dem Sonntagskuchen aus dem Laden kam. Um nicht anstehen zu müssen, ging ich ins Café hinein. Verblüfft gelangte ich von einem kühlen, fensterlosen, blau-weiss gekachelten und bis auf den letzten Stuhl besetzten Raum in den nächsten, mal in einen kleinen, mal in einen grösseren, bis sich zuhinterst der grösste Raum auftat, wo die Gäste vor einer Absperrung geduldig warteten, bis ein Tisch frei und sie eingelassen wurden. Berühmte Süssigkeit hin oder her, aber das war mir dann doch zuviel. Ich drehte um und entdeckte auf meinen Weg zum Ausgang per Zufall einen jungen Mann, schätzungsweise Mitte zwanzig, der allein an einem Tischchen sass.

Es wurde ein zauberhafter Spätnachmittag und Abend. Kaum hatte ich mich hingesetzt, bat mich der junge Mann, mit seiner Kamera ein Bild von ihm zu machen und eröffnete mit den üblichen Fragen, woher ich komme, was ich hier mache, wie lange ich bleibe. Ich fragte zurück und erfuhr, dass er ein italienischer Student aus Bergamo war, der für drei Monate an der Uni in Lissabon an einer Studie arbeitet. Wir unterhielten uns angeregt auf Englisch, Französisch und Italienisch, und schliesslich wussten wir voneinander, dass wir uns für den Rest des Nachmittags die gleichen Dinge vorgenommen hatten.

Die Törtchen mundeten herrlich. Rezept und Herstellung stammen original aus dieser Confeitaria, wie Andrea wusste. Von unserem Tisch aus sahen wir durch eine Glasscheibe in die Backstube – wie im Demel in Wien –, wo die Törtchen auf riesigen Kuchenblechen in den Ofen geschoben, gebacken herausgeholt und mit flinken Händen vom heissen Blech auf die Teller verteilt wurden. Hätte Andrea nicht vorgeschlagen, unseren Weg gemeinsam fortzusetzen, womit ich – very pleased – selbstverständlich einverstanden war, hätte ich mir bestimmt noch ein paar mehr dieser gefährlich leichten Blätterteig-Gebäcke erlaubt, die schmecken wie Luisas Torta della Nonna.

Mosteiro dos Jerónimos: Das Kloster schloss schon um 17 Uhr seine Pforten, wir hatten gerade noch Zeit für einen kurzen Rundgang in der Kirche, wo das Licht der Abendsonne durch die grosse Rosette den Raum in warme, goldene Farben tauchte, und im reich mit Ornamenten verzierten, zweistöckigen Kreuzgang aus hellem Kalkstein.

Torre de Belém: Als wir ankamen, war er schon geschlossen. Dahinter ging die Sonne unter und malte einen kitschig goldig-roten Horizont an den Himmel, den Andrea unbedingt mit uns beiden davor fotografiert haben wollte, wofür er extra jemanden herholte und ihm die Kamera in die Hand drückte und genau erklärte, was er machen müsse, damit das Bild gut würde. Wo immer wir hinkamen, wollte Andrea, dass ich ihn fotografiere, für seine Freundin, die in Deutschland als Physikerin arbeitet, deren Eltern er in Rumänien besuchen wird, sie sollen sehr streng sein und er hat Angst, sie könnten ihn nicht mögen. Er war sehr jung und irgendwie rührend.

Bacalhau: Im Bairro alto suchten wir nach einem Restaurant, in das kein aufdringlicher Kellner die Touristen hereinzulocken versuchte, und fanden ein winziges Lokal, an dessen Wänden Fotos, Porträts, Zeichnungen und Karikaturen der Patrona hingen. Das Lokal war voll, die Gäste sprachen Portugiesisch, wir bekamen den letzten freien Tisch und die Patrona erkundigte sich höchstpersönlich nach unseren Wünschen. Ich war entschlossen, an meinem letzten Abend noch einmal typisch Portugiesisch zu essen und wählte auf Anraten Andreas den Bacalhau, so etwas wie das Nationalgericht der Portugiesen. Zu meiner Überraschung mochte ich den Stockfisch, klein gewürfelt und in einer dezent gewürzten Rahmsauce gekocht, zusammen mit Kartoffelstückchen serviert - in einer Schüssel, die locker für zwei Fuhrmänner gereicht hätte. Nach knapp der Hälfte gab ich auf.

6. Tag, mittags, am Flughafen notiert

Livraria Bertrand: Einen letzten Café im Brasileira wollte ich mir noch genehmigen, auf dem Weg dorthin wurde ich auf Lissabons älteste Buchhandlung aufmerksam, praktisch vis-à-vis des Cafés, an der ich bisher vorübergegangen bin, obwohl Buchhandlungen, besonders die alten, mich sonst überall anziehen. Sie faszinieren mich, weil sie mir buchstäblich vor Augen führen, wie wichtig Sprache ist, und dass wir keine Geschichte hätten ohne das Wissen, das in Büchern festgehalten ist. Ohne Bücher wären wir nichts. Ray Bradburys «Fahrenheit 451» erinnert daran, Umberto Ecos «Name der Rose», Carlos Ruiz Zafons «Im Schatten des Windes» und viele mehr.

Ich wollte nur einen Blick hineinwerfen und wurde ganz automatisch die paar Stufen hinab in den dunklen, niedrig erscheinenden Raum hineingezogen. Vom Eingang führt ein langer, gerader Gang weit nach hinten, links und rechts des Gangs reihen sich regelmässig gegenüberliegende Nischen mit Büchergestellen aus massivem, dunklem Holz, in den Nischen laden bequeme, alte und neue Sessel und Sofas zum Verweilen und Lesen ein. Stapel von herausgezogenen und nicht wieder oder noch nicht eingereihten Büchern vermitteln den Eindruck von Unordnung, obwohl alles streng gegliedert ist. Die Buchhandlung ist gut besucht, trotzdem ist es ruhig, fast still; der Respekt vor dem hier versammelten Geist der Jahrhunderte verleiht dem Ort eine noble Würde.

 

 

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