Mittwoch, 11. November 2009

Schreiben ohne Not?

Gute Literatur entstehe nur aus der Not, sagte ein Experte in einem Gespräch im Radio. Gemeint war die Not der Menschen, die unter einem Unterdrückungssystem leiden. Es ging um Herta Müller. Zwar hat einer der Gesprächspartner diese Aussage relativiert und gesagt, Literatur könne auch aus persönlicher Not entstehen, aber indirekt bestätigte er sie: ohne Not entsteht keine Literatur.
Täglich lese oder höre ich von Menschen, die in Not sind, die von tragischen Schicksalen heimgesucht werden, deren Alltag durch Armut und Unterdrückung bestimmt wird, die von schweren, unheilbaren oder von schmerzhaften chronischen Krankheiten betroffen sind, die von staatlicher Willkür zermürbt werden, die keine Freiheit und keine Rechte kennen, die Krieg und Gewalt ausgesetzt sind. Ab und zu begegne ich einem dieser Menschen, zum Beispiel der gelähmten, jungen Frau heute im Tram. Sie sass im Rollstuhl und lächelte mich an, als ich ihr den Knopf drückte, damit sie aus dem Tram fahren konnte. Mir wurde dabei bewusst, welch grosse Befreiung die niederen Ausstiege beim Cobratram und die kleine Erhöhung der Rampen an den neuen Haltestellen für sie sein muss.
Jedes Mal, wenn ich einem solchen Menschen begegne, frage ich mich, wie ich dessen Schicksal ertragen könnte. Ob ich es annehmen und auch so lächeln könnte, wie diese junge Frau, oder ob ich haderte und zu einer verbitterten Frau würde. Ich weiss es nicht. Aber jedes Mal bin ich dankbar für mein gutes Leben. Ich weiss, es ist ein Geschenk. Nur weiss ich nicht, wem ich dafür danken soll. Dass es einen lieben Gott gibt, der Gebete erhört, daran glaube ich schon lange nicht mehr. Auch wenn mir bewusst ist, dass der blosse Glaube manchmal Wunder bewirkt, und dass Religion lebenswichtig ist für viele Menschen, die daraus Hoffnung schöpfen (deshalb fällt es den religiösen Institutionen und ihren Führern ja auch so leicht, ihre Macht zu missbrauchen). Diese Menschen sind sicher, dass es einen Gott gibt. Ich wünschte, ich könnte das auch sagen.
Einmal mehr frage ich mich, warum ich schreibe, obwohl ich wirkliche Not niemals kennen gelernt habe. Sicher, es hat Brüche gegeben in meinem Leben, Enttäuschungen und Rückschläge, die schwer zu verkraften, Verluste, die schmerzhaft waren. Auch seelische Nöte, immer wieder. Aber diese Dinge kommen in jedem Leben vor. Mein Leben ist nichts Besonderes, ich bin nichts Besonderes und ich habe nichts Aussergewöhnliches geleistet oder geschaffen. Habe ich trotzdem das Recht zu schreiben, bin ich überhaupt in der Lage dazu? Ich weiss es nicht.
Vielleicht schreibe ich gegen das eigene Vergessen. Vielleicht ist es der Versuch, dem eigenen Leben eine Bedeutung zu verleihen, die es sonst nicht hätte. Vielleicht ist es ein Akt der Befreiung aus engen, selbst gesteckten Grenzen oder die späte Rebellion gegen gesellschaftliche Zwänge. Vielleicht ist es die Hoffnung, wieder zu finden, was sich im Laufe der Zeit unmerklich ins Nichts verflüchtigt hatte.
Ich habe keinerlei literarische Ambitionen. Dazu stehe ich und ich sage es ohne jede Koketterie. Die Frage bleibt, warum ich diesen Blog, mit anderen Worten, warum ich öffentlich schreibe. (Auch wenn es mit fast absoluter Sicherheit niemand liest…) Warum ich nicht einfach ein Tagebuch führe. Mir ist bewusst, dass ich diesen Widerspruch nie ganz glaubwürdig rechtfertigen kann.

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