Donnerstag, 5. November 2009

Freier Wille

Meine Mutter ist mit ihren 94 Jahren geistig noch wach, wenn sie spricht, wirkt sie noch immer wie ein junges Mädchen. Aber sie verliert rasend schnell an Kraft. Zum ersten Mal mache ich mir Sorgen um sie. Sie hat gesagt, dass sie keinen Willen mehr habe.
Unser Wille ist es doch, der uns zu dem macht, was wir sind. Ob es so etwas wie einen freien Willen tatsächlich gibt oder ob wir bloss hirngesteuert sind, spielt dabei gar keine Rolle. Wir erleben unsere selbst getroffenen Entscheidungen als freien Willen. Nur das zählt. Die Freiheit zu entscheiden, was wir als nächstes tun, ob wir planen oder uns dem Zufall überlassen, ob wir uns einem Zwang unterwerfen oder uns dagegen auflehnen, ob wir etwas ignorieren oder ob wir es beachten, ob wir Angefangenes fortfahren oder beenden, und, und, und... ob es für uns wichtig ist, an einen Gott zu glauben oder nicht... Das Bewusstsein unseres Willens - ob frei oder gesteuert - macht uns zu autonomen Wesen.
Das bringt mich zurück zur Diskussion um die Sterbehilfe. Meine Mutter spricht zwar davon, sich selber ein Ende zu setzen, aber ich weiss, dass sie es niemals tun würde, weil sie es nicht wirklich will. In helle Panik versetzt sie jedoch die Aussicht, irgendwann in einem Pflegeheim dahin zu vegetieren, auf fremde Menschen angewiesen zu sein, keine Intimität mehr zu besitzen. Das ist ihre grösste Angst, eine Angst, die sie langsam auffrisst. Ich kann sie verstehen. So zu sterben hat nichts mit Würde zu tun. Sich einer solchen Demütigung durch den selbst gewählten Zeitpunkt des Todes zu entziehen, hat meiner Ansicht nach sehr viel mehr mit Würde zu tun. Selbstverständlich nur, wenn es meine eigene (vielleicht nur eingebildete) freie Entscheidung ist und nicht jemand die Entscheidung für mich getroffen hat.
Wenn kirchliche und religiöse Kreise die unsägliche Behauptung aufstellen, würdevoll zu sterben bedeute auszuharren bis zum klinisch messbaren Tod, bis unsere Körperfunktionen einfach eine nach der andern aussetzen, dann frage ich mich, warum sie nicht mehr gegen das tatsächlich sinnlose Töten tun. Sie engagieren sich mit Härte überall dort, wo eigentlich ihre Milde, ihr Verzeihen, ihr Verständnis gefragt wäre, sie machen Menschen zu Schuldigen, denen sogar der Allah der Taliban und der katholische Gott die Schuld erlassen würden, aber sie engagieren sich nicht mit all ihrer Macht gegen das Abrichten der Menschen zu Kampfmaschinen, gegen die Absurdität, dass im Krieg junge Menschen auf junge Menschen schiessen müssen.
Ich wünschte mir, ich könnte die Spiritualität, die ich einmal besass, wieder finden. Vielleicht hat derjenige Recht, der gesagt hat, nur ein Atheist könne ein ethischer Mensch sein, weil er die Verantwortung seines Tuns jederzeit selber trage.

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