Freitag, 23. Oktober 2009

Colmegna Oktober 2009

Colmegna, das ist zunächst einmal ein verlassener Bahnsteig auf einem höher gelegten Trassee. Ein steiler, betonierter Weg führt hinunter ins Dorf, wo auf den ersten Blick nur eine Häuserzeile zu erkennen ist, die sich entlang der Strasse aufreiht. Genauer besehen versteckt sich dahinter gut getarnt ein kleines, in den Hang geklebtes Dorf mit engen, schattigen Gassen und einer Kirche, deren Campanile mit einsamen, melancholischen Glockenschlägen die Stunden verkündet.
Wie sich herausstellt, ist das Hotel Camin nicht die teuerste, aber die beste Adresse in der Umgebung. An schönster Lage, wo die Gäste freundlich empfangen und aufmerksam bedient werden. Absolut einmalig ist der schmale, langgezogene Park, der sich dem steilen Seeufer entlang an den Hang schmiegt und auf dessen verschlungenen Treppen und Wegen da und dort ein lauschiges Plätzchen zum Verweilen einlädt. Die Chefin empfiehlt mir das Gewächshaus, wo anstelle der Pflanzen geflochtene Sessel mit violetten und purpurnen, goldbestickten Kissen die Atmosphäre des Fin de siècle in Erinnerung rufen.

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Ich warte auf den Bus nach Luino und verlasse mich darauf, dass ich den Fahrplan, aus dem ich nicht wirklich schlau geworden bin, richtig interpretiert habe. Einzelne, heftige Windböen eilen dem Sturm voraus, der für diese Nacht angesagt ist. Gekräuselte Wellen wandern quer über den See, weisse Schaumkrönchen blitzen auf, in der Ferne erstarrt die Bewegung im Sonnenlicht zur silbrig glänzenden Eisfläche. Zu meiner Überraschung taucht der Bus mit einigen Minuten Verspätung tatsächlich auf.

Das gläsernen Scheppern der Segelboote begleiten mich entlang der Seepromenade, der Wind bläst jetzt so stark, dass ich mich gegen ihn stellen muss, um nicht weggepustet zu werden. Eine Taube steuert vergeblich den Kandelaber als Landeplatz an, nach zwei misslungenen Versuchen gibt sie auf und lässt sich vom Windstoss in die andere Richtung davontragen. Der aufgewühlte See hat sich in der Zwischenzeit schwarzblau verfärbt und peitscht seine Wellen über die Ufermauer. Weit draussen entdecke ich ein einsames Segelboot. Selbst auf die Entfernung lässt sich erkennen, dass es sich um einen verbissenen Kampf handeln muss, die Segel tauchen mal als Strich, mal als kleine weisse Ovale auf, das Boot kann den Kurs nur schwer halten, von Zeit zu Zeit neigen sich die beiden Maste gefährlich tief zur Seite. Ein Mann gesellt sich neben mich und kommentiert die Szene. Es müsse sich wohl um eine grosse Barke handeln, er sei gestern auch draussen gewesen, aber heute wäre das Selbstmord, bei diesem Wellengang wäre er mit seinem Boot längst gekentert. Als ich nach rund einer Stunde wieder nach dem Boot Ausschau halte, sehe ich es nicht mehr.

Nachts tobte und lärmte und grollte der Föhnsturm, schlug herum, was nicht verankert war und riss mit, was nicht die Kraft hatte zu widerstehen. Erst gegen Morgen gab er sein Treiben langsam auf, und nach wenigen Stunden Schlaf erwachte ich bei strahlendem Sonnenschein, als ob nichts gewesen wäre. Die Zeitung schrieb von zahlreichen Schäden in der ganzen Umgebung. Von einem gesunkenen Boot stand nichts.

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Das Haus von Jacqueline und Walter liegt an einmaliger Lage zuoberst am Hang, mit Blick in beide Richtungen des Lago Maggiore. Ausschlaggebend war aber nicht nur die Lage, welche die beiden bewogen hat, das Haus zu kaufen, wie Jacqueline erzählt. Hier in Italien gebe es nicht diese Trennung der Generationen, wie in der Schweiz. Jung und Alt hätten einen viel natürlicheren Umgang untereinander. Und wer bereit sei, die schweizerische Perfektion nicht zum allgemeinen Massstab zu nehmen, der fühle sich hier wohl und gut aufgenommen, auch als Nicht-Einheimische.

Trotzdem ist das Gefälle zwischen den meist wenig verdienenden Einheimischen und den vergleichsweise gut situierten Halbjahres-Residierenden ein Problem. Schon jetzt, Mitte Oktober, sind die Fensterläden an vielen Häusern verriegelt, deren Besitzer erst im Frühjahr wiederkehren. Manche Geschäfte können im Winter kaum überleben. Und deshalb gibt es kaum Restaurants, wo man mal was anderes kriegt als Pizza oder Pasta, also das, was die Italiener sich leisten können. Jacqueline erzählt vom Haus mit den zwei Treppen in Luino, das jahrelang leer gestanden und dann sehr schön renoviert worden sei. Doch das Restaurant «Le due Scale» habe sich gerade mal einen Sommer gehalten.

Der Blick vom Balkon des Hauses ist überwältigend. Steil unter uns der See, der sich wie ein Fjord in beide Richtungen in der Ferne verliert und dessen glänzende Oberfläche sich seitlich vom gegenüberliegenden ans diesseitige Ufer bewegt, dahinter die braun-grünen Berge, die sich wie Kegel versetzt hintereinander stellen und deren Kuppen und Spitzen sich in der vom Föhnsturm geklärten Luft scharf konturiert vom tief blauen Himmel abheben. Das Licht ist so gleissend, dass meine automatische Kamera diese überwältigende Aussicht überbelichtet und sie im Dunst verschwinden lässt. 

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Von Dumenza marschiere ich zügig über die schmale, asphaltierte Strasse hinunter nach Colmegna. An besonnten Mauern räkeln sich die Eidechsen, die wie der Blitz verschwunden sind, wenn ich sie näher betrachten möchte. Während des Gehens in den engen Serpentinen sind nicht die allesamt zu schnell fahrenden Autos das grösste Problem, sondern die kläffenden Köter, die zähnefletschend die Gitter hinaufspringen und mich zu Tode erschrecken, wenn ich an ihnen vorbeigehe. Ich schicke ein Stossgebet zum Himmel und hoffe, dass die Tore gut verriegelt sind. Nach einer knappen Stunde bin ich im Dorf, wo es absolut ruhig und kein Mensch zu sehen ist. Fast ein bisschen surreal.

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Ich will nach Cannobio auf der anderen Seeseite. Um rechtzeitig zurück zu sein, muss ich das Schiff in Luino um 11.05 Uhr erreichen. Den Bus direkt vor dem Haus kann ich diesmal nicht nehmen, der fährt entweder zu früh oder zu spät, also wähle ich den Zug um 10.37 Uhr. Das wird reichen, um ohne grosse Eile zu Fuss vom Bahnhof bis zur Schiffstation zu gehen. Dachte ich...

Um 10.30 Uhr stehe ich wieder an der verlassenen Bahnstation, die einem alten Film entnommen sein könnte. Aus dem rostig-braunen Schotter der eingleisigen Bahnstrecke wuchern anspruchslose Gräser und allerlei Pflanzen, die ich als Unkraut verunglimpfen muss, weil ich sie nicht kenne; auf der gegenüberliegenden Seite steht vernachlässigt und teilnahmslos ein Haus, das vielleicht mal ein Bahnhof war; unter dem überdachten Perron döst ein Wartehäuschen mit ein paar blinden Scheiben, die überdauert haben und an denen kleine, vergilbte Anschläge kleben, die Wände der Unterführung sind besprayt, darunter der Spruch I was here!, oben am Treppengeländer baumelt schräg ein verrosteter Stempelapparat. Irgendwann fährt ein Zug vorbei.

Um 10.44 Uhr, wenn der Zug eigentlich in Luino ankommen sollte, stehe ich noch immer da. Kein Mensch weit und breit. Habe ich den Fahrplan falsch gelesen? Oder hätte ich den vorbeifahrenden Zug aufhalten sollen, wie das Plakat an der hohen Mauer unterhalb der Bahnstation vermuten lässt. Dort heisst es nämlich: Fermata facoltativa. Utilizzare il tasto rosso della cassetta arancione sul marciapiede. Aber ich sehe weit und breit keinen orangefarbenen Kasten mit einer roten Taste. Unsicher geworden stehe ich schon auf der Treppe zur Unterführung und ändere in Gedanken mein Tagesprogramm, als der Zug einfährt. Es ist 10.48 Uhr.

Sieben Minuten später renne ich von der Stazione Centrale in Luino los und kämpfe mich, nach Lücken in der träge vor sich hinfliessenden Menschenmasse sperbernd, Leute auf die Seite stossend (was sonst weiss Gott nicht meine Art ist), seitlich hüpfend und Scusi!, Per favore!, Pardon! rufend durch das Gewühl des Mittwochmarkts, der mir als sehenswert empfohlen worden ist, der mich aber gerade nicht interessiert, und den ich deshalb in meinem Zeitplan nicht bedacht hatte.

Punkt 11.05 Uhr stoppe ich am Schalter der Schiffstation und huste, völlig ausser Atem und mit zitternden Knien, Cannobio, per favore! durch die Scheibe, der weibliche Schatten dahinter greift zum Lautsprecher und spricht eine weit herum hörbare, knappe Mitteilung an die Schiffscrew hinein, deren Wortlaut ich aber nicht verstehe, schiebt mir das Ticket zu und nennt den Preis, ich werfe die Note hin, angle das Ticket, lasse die Münzen liegen und renne zur Brücke, die schon eingezogen war und extra für mich wieder ausgefahren worden ist. In Cannobio löse ich vorsichtshalber die Rückfahrkarte schon bei der Ankunft.

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Vom anfahrenden Schiff aus schiebt sich Cannobio wie eine lange, farbige Häuserkulisse ins Bild. Ein hübscher Ort, auf das Delta des Cannobino gebaut, sehr touristisch, mit einer neu gestalteten, teilweise mit Kopfsteinpflaster geschmückten, eleganten und in ihrer Grosszügigkeit schon fast mondänen Seepromenade, die gesäumt ist von Restaurants, Gelaterien, Cafés, Bars und Souvenirläden. Dahinter, parallel dazu eine schmale Gasse, ebenfalls kopfsteingepflastert, aber nicht neu, die authentischere Kehrseite der Postkartenfassade sozusagen. Gepflasterte Quergässchen führen vom See weg den Hang hinauf zur Hauptstrasse, dahinter verzetteln sich die Häuser in die Talebene. Nach einer guten Stunde habe ich gesehen, was in dieser kurzen Zeit zu sehen ist. Noch weiter zu gehen, riskiere ich nicht, ich darf das Schiff auf keinen Fall verpassen. Im Lo Scalo gegenüber der Schiffländte leiste ich mir ein gediegenes Menü und vertreibe die Zeit bis zur Abfahrt mit Schreiben und Beobachten der Menschen. Selbstverständlich so unauffällig wie möglich. Man will ja nicht indiskret sein.

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Der Chef der Service, ein gutaussehender junger Mann mit Vollglatze, lässig, elegant, schwarzgekleidet, weist die Plätze mit dieser gewissen Noblesse zu, die nur den Italienern zusteht. Der Kellner dagegen bedient schweigend, zwischen seinen Augen eine steile Falte, der Mund ein Strich, die Mundwinkel nach unten gezogen. Die Gäste sprechen ausschliesslich Schweizerdeutsch. Ich sitze allein an einem Tisch und bekomme zwangsläufig einiges von dem mit, was sie sagen. So auch das Gespräch, aus dem hervorgeht, dass der Chef de Service eigentlich der Inhaber ist, dass das Lokal ab dem 2. November bis im Frühling geschlossen ist, und dass er und seine Frau im Winter ein anderes Geschäft betreiben, weil sie dann ja auch etwas verdienen müssen.

Schräg vis-à-vis sitzen zwei Ehepaare, die Frauen in meinem Alter, ihre Männer um einiges älter und schon etwas greisenhaft. Eine der Frauen beklagt sich in gellendem Zürcher Dialekt über irgend etwas und ich verstehe plötzlich den schlecht gelaunten Kellner.

Geradeaus vor mir ein Mann, vermutlich Ende 50, mit seiner Frau, die einen strengen und nicht besonders lebenslustigen Eindruck macht, beide aus der Ostschweiz, mit betagten Eltern, vermutlich seinen, die kaum was sagen und offensichtlich auch nicht mehr ganz alles mitbekommen, auch wenn er es ihnen noch so oft und noch so deutlich wiederholt. Alle gut gekleidet, ziemlich sicher wohlhabend. Jedenfalls schliesse ich das aus der bestimmten Art, wie der Mann spricht – meistens nur er und so laut, dass man ihn hört.

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Ich bin zurück aus Cannobio und sitze allein in einem der Korbsessel im Gewächshaus, den Laptop auf den Knien, über mir die Baumkronen, die sich über die Glaskuppel beugen, und deren Blätter ein bewegtes Schattenmuster auf den Boden malen, vor mir die Türe, deren Flügel ich einen Spalt offenlasse, damit etwas Luft hereinkommt. Die Sonne steht bereits weit unten, ich muss ihr ausweichen und den Sessel von Zeit zu Zeit in den wandernden Schatten nachrücken.

Nun also habe ich so ziemlich alle Nichtigkeiten des Tages aufgezählt. Aber das Leben besteht wohl zur Hauptsache aus Belanglosigkeiten. Verleihe ich einer Begebenheit Bedeutung, indem ich sie aufschreibe? Oder erlangt sie diese erst, wenn jemand das Geschriebene liest? Und verliert sie sie wieder, wenn sie im Urteil des Lesers als bedeutungslos eingestuft wird? Und bedeuten Gedanken wie diese bloss Eitelkeit und sind demnach auch bloss Nichtigkeiten?

 

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