Samstag, 7. November 2009

Nichts gelernt

Imre Kertész wird morgen 80. In einem Interview spricht er über den Holocaust, den Totalitarismus und die Kritiklosigkeit der Menschen. Noch nie habe ich einen so klaren, treffenden Kommentar gelesen über das vergebliche Bemühen, das Unfassbare einzuordnen.
Ich weiss noch, wie wütend ich war, als ich damals im Kino den Film „Schindlers List“ anschaute. Alle um mich herum waren erschüttert, ich war wütend. Wütend über die optimistische Grundhaltung dieses Films, die ich als zynische Verharmlosung erlebte. Ich kannte mehrere Dokumentarfilme, die sehr viel eindrücklicher Zeugnis ablegten vom Grauen, für das es keine Adjektive gibt, wie Imre Kertész sagt. Ich war wütend, weil da Menschen sassen, die sich offenbar nie darum bemüht hatten, sich eine Vorstellung über das Geschehene zu machen und sich nun rühren liessen von einem Film, der, nach Hollywood-Spielfilm-Manier gedreht, selbst in seinen schlimmsten Szenen noch beschönigend und versöhnlich ist.
Mag sein, dass der Film in den Besuchern wenigstens eine leise Ahnung des Grauens wecken konnte. So jedenfalls wurde mir gegenüber argumentiert. Ich fand, das genüge nicht. Ich war der Meinung, dass es einen Schock brauche, von dem man sich nicht mehr erhole, damit so etwas nicht wieder passieren könne. Kertész spricht aus, was ich damals empfand, aber nicht formulieren konnte: „Der Holocaust ist kein deutsch-jüdischer Krieg (…) Der Holocaust ist ein universelles Versagen aller zivilisatorischen Werte. Lange Zeit habe ich gedacht, wir hätten daraus etwas gelernt. Aber ich lag falsch.“ Genau das macht mich auch heute noch so wütend.
Noch andere Dinge bringt Kertész auf den Punkt, schonungslos offen, auch sich selber gegenüber. Über die Diktatur sagt er, sie erlöse den Menschen, es sei eine ganz grosse Erleichterung, wenn einem das Denken abgenommen werde. So bleibe auch die persönliche Verantwortung auf der Strecke. Und ohne diese persönliche Verantwortung sei der Mensch Kind. Totalitarismus bedeute eine infantilisierte Gesellschaft.
Womit Kertész als 80jähriger Intellektueller kaum in Berührung kommen dürfte, sind die heutigen professionellen Marketing- und PR-Maschinerien, deren Omnipräsenz die Kritikfähigkeit ebenfalls untergräbt und die Menschen letztlich infantilisiert. Zu den "Denkabnehmern" gehören aus meiner Sicht auch die religiösen Glücksversprecher. Auf die Frage, ob zum Ende des Lebens die Hinwendung zur Religion erfolge, sagt Kertész: „Bei mir nicht.“
Ich glaube, ich kann ihn verstehen.

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