Die Ambivalenz beschäftigt mich
seit meiner Jugend, seit ich mich zu fragen begann, was richtig und was falsch
ist. Als ich begriff, dass es nicht nur eine Sicht auf die Dinge gibt, sondern
ganz viele. Als ich erkannte, dass jede Person ihre eigene Wahrnehmung
mitbringt und in ihrer eigenen Wahrheit lebt, zusammengemixt aus der Herkunft,
dem Charakter, der Psyche, dem angelernten Wissen und der individuellen
Erfahrung. Als mir bewusst zu werden begann, dass auch meine eigene persönliche
Wahrheit wandelbar bleibt, weil wir nicht nur gut oder schlecht und auch nicht
allwissend, sondern in uns selber widersprüchlich sind und uns verändern, genau
wie unsere Erinnerung, um die herum wir Geschichten bauen, Geschichten, die wir
uns selber glauben, obwohl sie vielleicht nicht ganz den Tatsachen entsprechen.
Die keine Lügen sind, weil wir nicht bewusst die Unwahrheit sagen, sondern
denken, es sei die Wahrheit.
Die Ambivalenz zu verstehen ist
für mich eine der zentralen Voraussetzungen, die Welt zu begreifen. Verkürzt:
Das «Sowohl als auch» im Widerspruch zum «Entweder oder». Noch einfacher
gesagt: Menschen, die immer glauben zu wissen, was richtig und was falsch ist,
irren sich grundsätzlich. Jetzt, wo die Spaltung der Gesellschaft in vielen
Ländern zunimmt oder schon beängstigend weit fortgeschritten und zementiert ist,
wie in den USA, wird das Thema im politischen Sinne brandaktuell.
Heute gibt es Theorien, die
davon ausgehen, Demokratie sei als System nicht mehr zukunftsfähig, Systeme mit
schnelleren Entscheidungswegen seien besser geeignet, die zahlreichen Herausforderungen
der Zukunft zu bewältigen. Dafür spreche auch das Bedürfnis vieler Menschen
nach Führung, ihr Wunsch, Verantwortung abzugeben in einer Zeit, in der alles
kompliziert und unüberschaubar geworden sei, ihre Sehnsucht nach Antworten, wo
es noch keine gibt.
Ich halte diese Theorien
einerseits für nachvollziehbar, weil es dieses Bedürfnis tatsächlich gibt,
andererseits für äusserst problematisch, für veraltetes Denken und letztlich
für vollkommen absurd. Es sei denn, man konditioniert die Menschen dazu, nicht
mehr selber zu denken. Der Wunschtraum aller Diktatoren und Autokraten. Die
einzige Ideologie, die das auf lange Sicht geschafft hat, ist die Religion.
Deshalb ist sie ja auch das geeignetste Instrument, autoritäre Systeme und
deren Führer an der Macht zu erhalten. Wer an Gott glaubt, für den ist er real.
It’s the brain, stupid! Das gilt auch für gewisse politische Parteien, die wie
Sekten organisiert sind. Mit einem Führer, der das Sagen hat, seinen Adlaten,
die ihn stützen, aus Eigennutz oder welchen Gründen auch immer, und einer
verblendeten Anhängerschaft, die das (selbst-)kritische Denken aufgegeben hat
oder zumindest nicht mehr aufmuckt.
Ich denke: Für nachhaltige
Lösungen braucht es zwingend die breite, pragmatische Mitte. Es braucht die Konfrontation
mit der Realität, die auf Fakten und auf den aktuellsten Erkenntnissen der
Wissenschaft basiert. Ideologien, ob von ganz rechts oder von ganz links, sind
nie demokratisch. Aber es braucht Menschen, die für ihre Gesinnung einstehen.
Gerade in einer Demokratie. Denn nur die kontroverse Auseinandersetzung mit den
Antipoden bringt uns weiter. Im Denken und auf der Suche nach der besten
Lösung. Wobei hier anzuführen ist, dass ich von politischen Haltungen und nicht
von irgendwelchen unqualifizierten Meinungen rede, und schon gar nicht von der
dümmlichen Behauptung, Demokratie bestehe in der Freiheit, jede Meinung, und
sei sie noch so diffamierend und diskriminierend, als politisch legitimiertes
Argument gelten zu lassen.
Ich denke: (Echte) Demokratie
ist das anspruchsvollste, aber einzig denkbare, freiheitliche System.
Anspruchsvoll, weil es bedeutet, unterschiedliche Meinungen auszuhalten, die
man tolerieren muss, ohne sie zu akzeptieren. Einzig denkbar, weil nur eine
echte politische Auseinandersetzung zur besten Lösung führt. Freiheitlich, weil
Lösungen nur dann nachhaltig sind, wenn sie pragmatisch gefunden werden. Anders
gesagt, wenn Lösungen nicht – von wem auch immer – oktroyiert, sondern im
Konsens entstanden sind, der die unterschiedlichen Bedürfnisse berücksichtigt.
In gegenseitigem Respekt. Unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten aller
Individuen, aber auch unter Berücksichtigung des Gemeinwohls, das sich manchmal
im Widerspruch zu den Einzelinteressen befindet. Beides in Einklang zu bringen
ist das Herausfordernde, aber auch die wahre Stärke der Demokratie. Und ganz
besonders der direkten Demokratie. Auch wenn der Weg manchmal mühsam ist,
Rückschläge und Umwege beinhaltet und vielleicht etwas länger dauert.
So sehe ich das.
*
Heute, in Coronazeiten, wäre es manchmal
wünschenswert, wenn das Zuständigkeitsgerangel zwischen Regierung und
Parlament, zwischen Bund und Kanton und zwischen den einzelnen Departementen etwas
zügiger einer einheitlichen Lösung Platz machen würde. Zumindest da, wo es Sinn
macht. Aus Vernunftgründen. Aber Vernunft und Politik sind bekanntlich nicht immer
dasselbe. Mich ärgert auch, dass die in den Medien zum Ausdruck gebrachte
Kakofonie nicht den Verursachern, sondern den Überbringern der schlechten
Nachricht angelastet wird. Im Mittelalter wurden diese geköpft. Heute nur noch
diffamiert. Immerhin.
*
Ambivalenz – Demokratie –
Medien, das alles hängt für mich in einer Linie zusammen.
Als Chefredaktorin bin ich jedes
Mal hellhörig geworden, wenn wir zuviel Zustimmung von einer Seite bekamen.
Glaubwürdig als Zeitung waren wir dann, wenn wir eine mittlere Unzufriedenheit
erreichten, das heisst, wenn durch unsere Berichterstattung oder einordnenden
Kommentare sich niemand im alleinigen Recht bestätigt, und niemand sich ins
alleinige Unrecht versetzt fühlen konnte. Wenn wir bei den Fakten und nur bei
den Fakten blieben. Wenn wir es schafften, eine kontroverse, weiterführende
Diskussion auszulösen.
Mit der polarisierenden
Blasenbildung in den sozialen Medien hätte die Bedeutung eines unabhängigen
Journalismus eigentlich zunehmen müssen. Eines Journalismus, der niemandem
verpflichtet ist, weder den Behörden noch der Politik noch der jeweiligen
politischen Haltung der Leserschaft. Niemandem, ausser der Wahrheit. Womit hier
die recherchierten und erhärteten Fakten gemeint sind. Eines Journalismus, der
frei und ohne Schere im Kopf die Realität abbildet, und der inhaltlich über den
Rendite-Interessen des Verlages und seinen Aktionären steht. Der nicht
permanent dazu gezwungen ist, Aufmerksamkeit zu erzeugen, um schneller als die
Konkurrenz zu sein.
Dazu bräuchte es aber die
Bereitschaft der Leserschaft, die unabhängige Information als ein wichtiges,
demokratisches Gut zu erkennen und dafür entsprechend zu bezahlen. Ich fürchte,
vielen Menschen ist das nicht mehr bewusst. Im Gegenteil.
Für Journalistinnen und
Journalisten wird es immer schwieriger, ihre Glaubwürdigkeit zu beweisen. Ihre
Arbeit und ihre Kompetenz werden in Zweifel gezogen, nicht zuletzt von
rechtsnationalen Populisten, die von Demokratie reden, aber Antidemokraten
sind, die gezielt die Glaubwürdigkeit der Medien untergraben, um danach ihr
eigenes Narrativ in die Köpfe zu pflanzen. Was ihnen auch gelingt. Schon
plappern viele Leute einander gebetsmühlenartig nach, «die» Medien seien alle
sensationslüstern und würden bloss Fake News verbreiten. Sie prüfen nicht, ob
das stimmt, sie differenzieren nicht zwischen den verschiedenen Medien und
ihrer jeweiligen Aufgabe, sie wissen nicht, was der Begriff «Medien» beinhaltet
und wollen es auch gar nicht wissen. Sie begnügen sich damit, die Vorurteile
der eigenen Blase zu pflegen und sich bestätigt zu fühlen. Manchmal aus
Unwissenheit, oft aus Denkfaulheit. Was nicht nur die seriösen Medien, sondern
langfristig auch die Demokratie beschädigt. Womit wir wieder am Anfang der
Fragestellung angelangt wären.
Ich bin froh, bin ich raus.