Samstag, 1. Dezember 2012

„Schluss mit dem Gequengel“…

…schreibt Birgit Schmid in ihrer Polemik über den Lifestyle-Feminismus - gross aufgemacht auf der Titelseite des heutigen TA-Magazins, illustriert mit einer schönen, jungen Frau, Typ Männertraum, samt dem perfekt geformten, mit dem langen, blonden Haar leicht verhüllten, nackten Busen. Vermutlich ein Mitglied der Femen, den ukrainischen Feministinnen, die öffentlichkeitswirksam gegen Sexismus protestieren und sich politisch für mehr Freiheit und Demokratie einsetzen.
Die Illustration ist wohl zur Untermalung gedacht… Moment... zu welcher Aussage denn jetzt…???
Nun ist eine Polemik explizit dazu da zu provozieren. Deutlich angekündigt im Untertitel:  „Warum das Gerede über benachteiligte Frauen nur noch nervt“. Also deute ich die seltsame Verknüpfung der optischen und der verbalen Aussage erst mal als gekonnten redaktionellen Trick, die Aufmerksamkeit sowohl der weiblichen als auch der männlichen Leserschaft zu gewinnen, und beschliesse, mich vorerst nicht zu ärgern.
Während des Lesens frage ich mich allerdings, wie alt Birgit Schmid wohl sein könnte. Ich schlage nach und erfahre - sofern ich sie richtig gegoogelt habe - dass sie vermutlich einer Generation Frauen angehört, die tatsächlich nicht mehr um ihre Rechte kämpfen musste, jedenfalls diejenigen unter ihnen nicht, für die alle Voraussetzungen schon da waren: Das Umfeld, in das sie geboren wurden, die Bildungschancen, die ihnen schon im Kindesalter zur Verfügung standen, die Branche, in der sie heute arbeiten und womöglich sogar den gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit erhalten. Vielleicht steht ihnen eine Karriere in die oberste Etage offen und dazu noch ein Mann zur Seite, der bereit ist, die Arbeit im Haushalt und die Kindererziehung gleichverpflichtet zu übernehmen, sofern man diese Aufgaben nicht sowieso outsourced. Wo das alles zutrifft, kann man mit Fug und Recht behaupten, diese Frauen seien nicht benachteiligt. Es gibt sie tatsächlich. Aber: für wie viele gilt das?
Ich bin weder benachteiligt, noch zähle ich mich zu den Feministinnen. Jedenfalls nicht zu den Hardcore-Feministinnen, die jegliches Übel auf genderbedingte Ungerechtigkeiten zurückführen. Auch ich habe mich schon oft genervt über feministische Larmoyanz und Humorlosigkeit, über Klagen auf allzu hohem Niveau, über lächerliche Empfindlichkeiten, über unrealistische Forderungen auf der einen und die Verweigerung von Pflichten auf der andern Seite, über die einseitige Sichtweise mancher Feministinnen, die ausklammern, dass nicht nur Frauen, sondern auch Männer mit den Ungerechtigkeiten dieses Lebens konfrontiert sind. Und ich ärgere mich über die zunehmende Zahl von infantilisierten Frauen, denen Aussehen und Highheels wichtiger sind als Wissen und Verstehen. Die Liste liesse sich verlängern…
Es ist richtig, dass die Klagen westlicher Frauen lächerlich tönen im Vergleich zu den Ungeheuerlichkeiten, denen Frauen in vielen anderen Kulturen ausgesetzt sind. Es ist richtig, dass weder Gleichmacherei noch die Umkehrung ins Gegenteil der richtige Weg sein können. Und es ist auch richtig, dass es unter anderem eine Frage der Persönlichkeit ist, ob eine Frau sich für eine Karriere entscheidet oder eben lieber zu Hause bleibt und sich den Kindern und der Familie widmet… sofern sie die Möglichkeit dazu hat.
Was Birgit Schmid ausklammert: Wir Frauen bewegen uns nach wie vor auf dünnstem Eis. Das bisher Erreichte lässt sich zwar sehen, aber es ist längst noch nicht so verankert und gefestigt, dass es zur Selbstverständlichkeit geworden wäre. Nach wie vor fehlen vielerorts die infrastrukturellen Voraussetzungen, die es beiden Ehepartnern ermöglichen, wirklich frei zu entscheiden, wie sie sich nach der Geburt eines Kindes organisieren, nach wie vor ist gleicher Lohn für gleiche Arbeit längst nicht überall gültig, nach wie vor werden Männer den Frauen vorgezogen, wenn es um Führungsaufgaben geht. Nach wie vor werden die Machtstrukturen dieser Welt von Männern gebaut. Nach wie vor prägt die männliche definierte Vorstellungswelt die Strukturen der Wirtschaft. Ein Beispiel dafür ist etwa die Behauptung, Führungsaufgaben liessen sich nicht teilen. Auch hier liesse sich die Liste verlängern.
Frauen und Männer sind anders. Sie werden in der Regel unterschiedlich sozialisiert und haben entsprechend unterschiedliche Sichtweisen. Zum Glück. Ich bestreite jedoch die evolutionspsychologische Theorie von der genetisch bedingten typisch männlichen und typisch weiblichen Verhaltensweise. Wir alle haben männlich und weiblich definierte Anlagen. Unsere Verhaltensweise ist nur zum Teil genetisch bedingt, zu einem grossen Teil ist sie anerzogen, und wahrscheinlich zum grössten Teil kulturbedingt. Und in unserer Kultur prägt nach wie vor die als männlich definierte Vorstellungswelt sowohl die Politik als auch die daraus resultierende gesellschaftliche Norm.
Die Frauen in der westlichen Welt haben gelernt, sich ihre Rechte zu erkämpfen. Das ist gut so. Aber von einer Gleichberechtigung, die immer auch eine Gleichverpflichtung ist, sind wir noch weit entfernt. Auch bei uns.
Damit die Frauen nachhaltig mitgestalten können, brauchen sie den selbstverständlichen Zugang zur Macht - zur politischen und wirtschaftlichen. Und zur institutionellen Macht, ganz besonders der kirchlichen, denn diese prägt die Moralvorstellung der jeweiligen Zeit, die sich wiederum in der gesellschaftlichen Norm festsetzt.
Politisch artikulierter Feminismus nervt nicht, nur falsch verstandener. Vielleicht meinte Birgit Schmid mit ihrer Kritik am modischen ,Lifestyle-Feminismus‘ ja genau das.

Montag, 19. November 2012

Offener Brief an Roger Köppel

Lieber Roger Köppel
Im heutigen Tagi schreiben Sie: „Das Geschäftsmodell der ,Weltwoche‘ ist die Wirklichkeit.“
Ich dachte, ich lese nicht richtig. Wie kann ein gebildeter, intellektueller Mensch wie Sie im Ernst eine so unbedarfte Äusserung machen, die den Widerspruch geradezu herausfordert, und das nicht nur im philosophischen Sinne?
Wenn Sie geschrieben hätten: die Weltwoche beschreibt eine Wirklichkeit, wie wir Journalistinnen und Journalisten der ,Weltwoche‘ sie als richtig befinden,  oder: die ,Weltwoche‘ beschreibt eine Wirklichkeit, wie ein grosser Teil der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land sie sieht, dann hätte man ihre Replik auf den Essay von Constantin Seibt ernst nehmen können.
Aber mit diesem letzten Satz disqualifizieren Sie sich selber.
Sie wissen also, was Wirklichkeit ist? Tatsächlich?
Dann gehen wir doch dieser „Wirklichkeit“ mal auf den Grund, indem wir Ihre Äusserungen Punkt für Punkt betrachten, im Sinne einer „verständnisorientierten Diskussion“, wie das so schön heisst.
Sie schreiben, die Weltwoche setze auf Fakten, und als Beweis listen Sie auf, was die Weltwoche „aufgedeckt“ habe. Ich will Ihre Meriten im einen oder anderen Fall gar nicht anzweifeln. Sie machen, was jede andere Zeitung auch macht: Sie recherchieren und decken Missstände auf, dort wo sie Sie vermuten. Sie vermuten sie allerdings auffällig oft genau dort, wo ausgerechnet die SVP sie auch vermutet. Zufall?
Ich unterstelle Ihnen nicht, Sie würden nicht recherchieren, aber wie das bei anderen Zeitungen eben auch so ist, basieren viele dieser sogenannten Recherchen letztlich auf Indiskretionen einer bestimmten Seite, die daran interessiert ist, dass über einen tatsächlichen oder angeblichen Missstand geschrieben wird. In dieser Beziehung sind Sie absolut keine Ausnahme.
Sie erwähnen den Fall Zuppiger. Wahrscheinlich um zu zeigen, wie unabhängig sie von der SVP sind. Für mich ist aber gerade dieses Beispiel ein Hinweis auf meine Vermutung, wie sehr die Weltwoche sich von der SVP instrumentalisieren lässt. Als bekannt wurde, dass Zuppiger für den Bundesrat kandidiert, habe ich einen Moment die Welt nicht mehr verstanden. Ich habe mich gefragt, wie es sein kann, dass der nach wie vor übermächtige Christoph Blocher dies zulässt. Einen Mann wie Zuppiger, der nicht unbedingt Blochers Gusto entsprach, wie man weiss, und von dem dieser mit Sicherheit wusste, dass die Medien irgendwann die Unterschlagungs-Geschichte aufgreifen würden, die ja früher bereits mal Thema in den Medien war. Was konnte also der Grund sein? Für mich gibt es nur eine Möglichkeit. Zuppiger war das Bauernopfer, mit dem man gleich zwei Fliegen auf einen Schlag erledigen konnte. Erstens war der ungeliebte Zuppiger ein für allemal ausgeschaltet und zweitens bekam die Weltwoche damit ihr weisses Mäntelchen verpasst.
Das entspreche nicht der Wirklichkeit, werden Sie jetzt sagen. Sind Sie sich so sicher?
Sie schreiben, wenn Seibt von „Fakten“ schreibe, meine er sich selbst. Gilt das nicht mindestens im gleichen Mass auch für Sie?
Sie bezeichnen Seibt als den Gralshüter des „Mainstreams“, unter dem Sie die „zufällig von einer Mehrheit der Journalisten für wahr gehaltene Beschreibung aktueller Themen“ verstehen. Mal abgesehen davon, dass der Begriff „Wahrheit“ in diesem Zusammenhang arg strapaziert wird, so stört mich in dieser Äusserung vor allem die Selbstgefälligkeit, mit der Sie offenbar für sich in Anspruch nehmen, im Besitz dieser sogenannten Wahrheit zu sein.
Sie schreiben: „Sie (die Journalisten) sind für Obama und gegen Romney, für Widmer-Schlumpf und gegen Blocher, für den Atomausstieg und gegen den menschengemachten Klimawandel, wobei sich die letzteren beiden Ansätze widersprechen, was aber keine Rolle spielt, weil es die Mehrheit ähnlich sieht und deshalb nicht so genau hinschaut.“
Mit andern Worten: Man muss gegen Obama und für Romney sein, gegen Widmer-Schlumpf und für Blocher, gegen den Atomausstieg und für den menschengemachten Klimawandel (sic!), (sagen Sie mir mal, wie Sie das genau meinen...).
Wer die Wirklichkeit so sieht, wie Sie, ist also auf der Seite der Wahrheit?
Es sei Ihnen unbenommen, Romney als den besseren Präsidenten zu sehen oder Widmer-Schlumpf zum Feindbild zu machen. Sie können gerne gegen den Atomausstieg sein und den Klimawandel als Tatsache anerkennen oder nicht. Aber bitte, nehmen Sie nicht für sich in Anspruch, Sie seien im Besitz der Wahrheit. Was Sie vertreten ist eine politische Meinung  - und zwar eine eindeutige, zumindest das muss man Ihnen lassen. Richtig ist, dass guter Journalismus nicht darin besteht, immer das zu bestätigen, was die Mehrheit, was das journalistische und politische Establishment für die Wahrheit halten. Aber wenn Sie gleich darauf schreiben, ein Journalist, der seinen Job gut mache, müsse die Einsamkeit aushalten, in der er sich manchmal hineinschreibe, dann kommen wir doch tatsächlich die Tränen.
Das erinnert mich ganz stark an die Mission vom rechten und falschen Weg auf dem Wandbild der Familie Blocher. Wissen Sie eigentlich, dass Sie auf dem besten Weg sind, Mitglied einer Sekte zu werden?
Sie rollen weiter den Fall Hildebrand auf und brüsten sich mit den Fakten, welche die „Weltwoche“ aufgedeckt habe. Mit Verlaub. Die „Weltwoche“ war das Sprachrohr für einen Coup, der längst vorbereitet gewesen war. Brüsten Sie sich also nicht mit einer Leistung, die - genau besehen - keine besondere war. Nicht einmal in publizistischer Hinsicht. Denn mit der Veröffentlichung haben Sie wiederum ihr eigenes Publikum bestens bedient. Dafür braucht es keinen Mut.
Sie bezeichnen Constantin Seibt als „Meinungsjournalist“. Ja Herrgott! Was sind SIE denn???
Dann schreiben Sie, die „Weltwoche“ verfolge keine politische Mission, sondern pflege das journalistische Handwerk der Recherche und des kritischen Hinterfragens usw. Lieber Roger Köppel, das machen alle ernsthaften Journalisten in allen Medien. Dass es die Anderen auch gibt, darin sind wir uns einig. Trotzdem hat ihr Selbstlob in diesem Zusammenhang schon fast etwas Lächerliches, wäre es nicht so anmassend.
Sie schreiben, die „Weltwoche“ setze sich, auf der Grundlage von Fakten, bewusst für die urdemokratische Tugend der Meinungsvielfalt ein, weil es in einer Demokratie schlecht herauskomme, „wenn alle das Gleiche schreiben, denken und sagen“.
In diesem Punkt gebe ich Ihnen Recht. Schreiben Sie in der Weltwoche, was Sie für richtig empfinden. Das trägt zur politischen Diskussion und zur Meinungsbildung bei. Es ist dabei Ihr gutes Recht, eine politische Haltung zu vertreten, die ganz offensichtlich nicht derjenigen der Mehrheit dieses Volkes, sondern laut Wahlen bloss rund 30 Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung entspricht.
Und schliesslich noch zum politischen Journalismus. Sie schreiben, dieser bedeute Skepsis, Misstrauen und die Kunst des fundierten Zweifels in Gestalt der Recherche. Richtig. Dann zweifeln Sie aber bitte auch an der eigenen Sicht der Dinge. Erst das macht Sie wirklich glaubwürdig.
Das Geschäftsmodell der „Weltwoche“ sei die Wirklichkeit, schreiben Sie. Lieber Herr Köppel, es handelt sich dabei lediglich um IHRE Wirklichkeit. Meine ist eine andere.

Sonntag, 11. November 2012

More than Honey

„It sounds money“, kommentiert der amerikanische Imker genüsslich das Summen der Bienen. Treffender hätte er sein Verhältnis zu seiner industriell betriebenen Imkerei nicht beschreiben können. Dass dabei ganze Bienenvölker elendiglich zu Grunde gehen, dass ihr Immunsystem durch Stress, Viren und andere Krankheiten geschädigt wird, was irgendwann zum Aussterben der Bienen führen wird, wenn kein Umdenken passiert, das nimmt er bedauernd in Kauf. Schliesslich geht‘s um Geld.
Um Geld geht es auch dem Mandelzüchter, der seine Monoplantagen tagsüber mit Gift spritzen lässt, genau dann, wenn die Bienen von Blüte zu Blüte fliegen und für seine reiche Ernte sorgen. Würde er sein Gift nachts versprühen, wären die Bienen wenigstens nicht unterwegs, das Sterben wäre nicht so brutal und ein Teil der Bienen könnte gesund überleben. Zum Segen der Menschen. Aber so weit zu denken ist offenbar eine zu grosse intellektuelle Herausforderung. Wahrscheinlicher ist jedoch die Annahme, dass diesen beiden erfolgreichen Geschäftsherren die Welt egal ist, die sie hinterlassen werden. Hauptsache, sie verdienen gutes Geld. Jetzt. „We are capitalists“, sagt der Imker. Lachend.
Was passiert, wenn die Bienen von Pestiziden und Isektiziden ausgerottet sind, zeigt die Sequenz über eine Gegend in China. Die Blüten werden dort von Hand gesammelt, deren Pollen extrahiert, in Päckchen verpackt und an die Landwirtschaft verkauft, wo wiederum ganze Armeen von LandarbeiterInnen unterwegs sind mit ihren Pollenpäckchen, in die sie ein Stäbchen eintauchen um es in danach an jeder einzelnen Blüte der Baumkulturen abzustreifen. Denn ohne befruchtete Blüte keine Nahrung. Die Universität in Peking hat herausgefunden, dass die Bienen im Bestäuben effizienter sind als die Menschen. Man staune…
Es gibt auch Hoffnungsvolles. Vom (ebenfalls amerikanischen) Imker, der sich auf Killerbienen spezialisiert hat, über diese Tiere mit dem grössten Respekt spricht und sie entsprechend behandelt. Und der bewundernd akzeptiert, wenn eines seiner Bienenvölker eines Morgens davon gezogen ist und sich einen Ort gesucht hat, wo kein Mensch mehr hinkommt. Oder Rührendes. Vom Ätti aus dem Berner Oberland, der seine Landbienen gerne rassenrein halten möchte und einsehen muss, dass er seine heile Bergwelt nicht vom Eindringen „fremder Fötzel“ bewahren kann. Und der die schmerzliche Erfahrung machen muss, dass er auch seine rassenreinen Bienen nicht davor schützen kann, krank zu werden.
Man sagt, dass zuerst die Bienen und dann die Menschen sterben. Das kann man wörtlich nehmen oder als Aussage zum Zustand unserer Welt. Ein eindrücklicher Film, der sehr, sehr nachdenklich stimmt.

Dienstag, 9. Oktober 2012

Mein erster Roman!

Das Buch liest sich wie ein Krimi und ist doch keiner. Denn alles könnte ganz anders sein, als man denkt. Auch die weisse Gestalt im Bild, aus dem Nichts kommend ins Nichts verschwindend…
"Das Bild" ist ein Buch über die Ambivalenz des Lebens und der Liebe. Über Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Über Beziehungen. Zwischen Paul, dem Maler des Bildes, und drei Frauen: Alma, seiner Lebenspartnerin, Lisa, seiner ersten Liebe, und Mona, mit der er eine leidenschaftliche Affäre hatte. Und zwischen den drei Frauen, die so verschieden sind und doch untrennbar miteinander verbunden.
Es ist die Geschichte dreier Lebensentwürfe von Frauen, denen Möglichkeiten offenstanden, die ihre Mütter für sie nicht vorgesehen hatten. Die jetzt zurückblicken, kurz vor der Pensionierung, an der Grenze zum Altwerden. Sie erinnern sich an Brüche in ihrem Leben. Brüche, die nicht nur das Leben verändern, sondern sich prägend auf die Vorstellungswelt auswirken. Eine Vorstellungswelt, die manchmal so ganz anders aussieht als die Realität. Oder die vermeintliche Realität.
Und es ist die Geschichte der Selbstfindung von Alma, von der Paul das Bild "Die Göttin" zurückhaben will. "Die Göttin", von der sie glaubt, sie sei ihre Idee gewesen… Das Buch erscheint am 1. März 2013 im Xanthippe-Verlag in Zürich. www.xanthippe.ch

Dienstag, 18. September 2012

Ein Hype der Schadenfreude

Wer mag schon Christoph Mörgeli? Wahrscheinlich ist er nicht einmal in seiner eigenen Partei besonders beliebt. Das ist auch kein Wunder, denn ein Mensch wie er, der so keine Hemmungen kennt, Andere zu verletzen und öffentlich zu beleidigen, muss sich nicht wundern, wenn er selber auch nicht geschont wird.
Ich gebe zu, Christoph Mörgeli ist für mich ein rotes Tuch. Nicht, weil er vollkommen entgegengesetzte politische Ansichten vertritt. Nicht, weil er zu den Vordenkern einer Partei gehört, die sich als Vertreterin des „Volkes“ bezeichnet und die Anderen, die nicht der gleichen Meinung sind, d.h. eigentlich die Mehrheit dieses „Volkes“, immer wieder diffamiert. Das ist Politik. Es ist Mörgelis Art der herablassenden Häme, die ich nicht goutiere. Und ganz bestimmt geht es nicht nur mir so. Deshalb ist die Schadenfreude nicht verwunderlich, wie sie sich kurz nach der Veröffentlichung des vernichtenden Berichts über seine Arbeitsleistung breit machte. Sie gehört zu den menschlichen Reaktionen, für die man sich im Nachhinein schämt.
Aber richtig ist auch - und das wissen wir alle: Die Art, wie dieser Bericht an die Öffentlichkeit gelangt ist, wirft Fragen auf. Zum Beispiel, wie und warum der Bericht vorzeitig aus dem Kreis gelangt ist, der ihn eigentlich vertraulich hätte behandeln müssen. Eine Mitarbeiterbeurteilung gehört nicht an die Öffentlichkeit, auch wenn es sich um eine öffentliche Person wie Christoph Mörgeli handelt. Seine Persönlichkeitsrechte wurden damit verletzt und das ist nicht korrekt. Ausserdem untergräbt es die Glaubwürdigkeit und wirft ein schiefes Licht auf alle, die daran beteiligt sind.
Wer trägt die Verantwortung? Der Whistleblower - wie ein Informant, der eine Indiskretion begeht, heute neudeutsch heisst? Was meint dazu die SVP, die den Whistleblower im Fall Hildebrand verteidigt? Oder die Presse, die von der SVP immer wieder dazu aufgerufen wurde, ungeschönt aufzudecken - wenn es um die Andern ging? Muss ein Bericht, der der Presse zugespielt wird, unbedingt veröffentlicht werden? Trägt die Presse die Verantwortung, die Persönlichkeitsrechte zu schützen?
Was nach Veröffentlichung im TA geschah, war ein ausgewachsener Medienhype - mit allem Drum und Dran - auch den Spekulationen wie etwa der Meldung im "Sonntag" über die bevorstehende fristlose Entlassung, die ohne Quellenangabe nicht hätte erfolgen dürfen. Solche Hypes sind immer fragwürdig. Auch wenn man ihnen - im ersten Moment - nur zu gerne erliegt. Viele müssen sich da wohl an der Nase nehmen. Auch ich.
Neben aller Selbstkritik: Ein neuer Chef, der eine Mitarbeiterbeurteilung anordnet ist grundsätzlich im Recht. Unter der Voraussetzung, dass die in der Beurteilung beschriebene massive Kritik zutrifft wäre für mich unverständlich, wenn Christoph Mörgeli nicht entlassen würde. Und ich spreche jetzt auch mal „im Namen des gewöhnlichen Volkes“, das heisst im Namen aller gewöhnlichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich nicht leisten können, ihre Arbeit zu vernachlässigen, weil sie sonst ohne Wenn und Aber entlassen werden.
Trotz aller Vorbehalte, wie es gelaufen ist: Mein Mitleid mit Christoph Mörgeli hält sich in Grenzen. Denn dass er jetzt nicht geschont wird, ist unschön, aber auch selbst verschuldet. Er ist in eine Situation geraten, die er - würde es sich um einen politischen Gegner handeln -, ohne Zweifel gnadenlos ausnützen würde. Es ist schlimm, wenn der Ruf eines Menschen zerstört wird, aber noch schlimmer ist es, wenn eine Existenz damit zugrunde geht. Das ist bei Mörgeli ganz bestimmt nicht der Fall. Dazu hat er zu viele einflussreiche Gönner.
Deshalb: Das Mitleid behalte ich mir vor für Menschen, die für ihr Leid nichts können und denen in der Regel nicht geholfen wird.

Freitag, 14. September 2012

Wir alle sind Doppelmoralisten

Kürzlich hat sich Markus Gisler in der AZ über die Doppelmoral der Amerikaner ausgelassen, die den „Verräter“ Bradley Birkenfeld per Gerichtsurteil zum Millionär machte, (wenn er es nicht schon war, denn „Wer da hat, dem wird gegeben“, nicht wahr..?).
Wir empören uns: über die ganz grossen und die kleinen „Ungerechtigkeiten“, manchmal zu Unrecht über bloss vermeintliche Skandale und manchmal zu Recht über unfassbare Dinge, wie zum Beispiel die religiös motivierte Gewalt. Rollt die Welle der Empörung an, sind wir alle irgendwie mittendrin, die einen am Stammtisch, die andern zu Hause am Familientisch oder allein vor dem Fernseher, unter Kollegen bei der Arbeit und ganz besonders und vor allem in den Social Media. Einen Tag lang flattern dann die Twitter wie aufgeschreckte Hühner im Stall herum, bis sich die Aufregung legt, so lange, bis das nächste Skandälchen wieder etwas Leben in die Bude bringt.
Ich empöre mich auch - manchmal völlig unnötigerweise, manchmal zu Recht. Und dann ärgere ich mich über all diese Doppelmoralisten, die ihren Senf dazu geben. Und vor allem ärgere ich mich über mich, weil ich genauso dazu gehöre. Wie gerade jetzt. Denn ich schreibe ja nicht, weil ich gerade nichts anderes zu tun habe, ich schreibe es auf, weil ich meine Meinung kund tun will. Irgendwie. Obwohl mir vollkommen bewusst ist, dass im Grunde genommen niemand auf meine Meinung gewartet hat. Oder vielleicht gerade deshalb? Legitimiere ich meine virtuelle Existenz, indem ich mich immer wieder mal bemerkbar mache?
Es wäre zutiefst beunruhigend, wenn Menschen sich nicht über die Ungerechtigkeit empörten. Das würde bedeuten, dass es keine Empathie gäbe. Doch es gibt die Empathie, wissenschaftlich erwiesen, also kann man davon ausgehen, dass die Empörung in den meisten Fällen echt ist. Im Moment. Aber wenn die Empörung nur so lange dauert, bis sie getwittert ist, dann ist das eben keine Empörung, dann ist das bloss das übliche „Dampf ablassen“. Sozusagen die tägliche Seelenhygiene. Oder das Buhlen um Aufmerksamkeit. Oder ein Spiel, ein durchaus lustvolles manchmal, wie ich zugeben muss.

Um auf den Ärger von Markus Gisler zurück zu kommen: Er wirft der amerikanischen Justizbehörde vor, sie setze ein falsches Signal. Wenn der Staat schon ein solches Unrecht begehe, weil es ihm nütze, dann werde auch jeder Bürger und jede Bürgerin genau so handeln, nach dem Prinzip, „erst mein Vorteil, dann die Moral“. Ja, sagen Sie mal, Herr Gisler, ist es denn irgendwo auf der Welt anders?? „Der Staat“, resp. seine Vertreter, handeln Verträge aus, die dem „Staat“ nützen, Unternehmen, resp. deren Vertreter, planen, was dem Unternehmen nützt, die „Kirchen“ behaupten im Namen ihrer Religionen, was ihnen nützt, Parteivertreter erzählen, was der Partei nützt, usw. Die Menschen machen (und glauben), was ihnen nützt - (mal abgesehen von den wenigen wahrhaften Altruisten, die nie zuerst an sich denken.) Beinahe alles, was wir tun, geht auf Kosten von irgend jemand oder irgend etwas Anderem. Also sind wir alle irgendwie Doppelmoralisten.
Wo zu also die Empörung? Ich denke schon, dass sie wichtig ist. Ihr Gegenteil wäre die Gleichgültigkeit, und die wäre noch fataler. Das Problem ist nur, dass Empörung allein noch keine Wirkung hat. Auch nicht die getwitterte. Trotzdem ist das „Dampf ablassen“ manchmal richtig. Es zeigt uns, dass wir mit unserer Empörung nicht allein sind.
A propos. Ich empöre mich gerade über diesen scheissdummen Film, über die Tatsache, dass ein koptischer Christ, offenbar ein Ägypter, sich als Jude ausgibt, um noch ein bisschen zusätzlich zu schüren, über die Tatsache, dass auch ein evangelikaler Pastor mitgemischt hat - auch wenn es mich nicht erstaunt... Aber ich empöre mich auch über diese unsäglichen religiösen Fanatiker, die jetzt dieses schmierige Filmchen zum Anlass nehmen, einen Flächenbrand in Gang zu setzen. Und ich empöre mich darüber, dass sich viel zu wenig auch darüber empören. Und ich empöre mich darüber, dass man nicht darüber sprechen kann, dass die Welt ohne Religion wahrscheinlich besser würde.

Dienstag, 11. September 2012

Bloss eine Frage des Alters?

Ich mag keinen Lärm. Schon als Kind nicht. Wenn es mir zu bunt wurde, flüchtete ich auf die Treppe des Hühnerstalls, wo mich niemand störte. Als Teenager liebte ich die Beatles und die Rolling stones - ja, beide -, aber damals ging es auch noch um Musik, und man drehte die Bässe noch nicht so auf, bis die Gedärme zittern.
Ich weiss nicht, wie das Andern geht. Ich hasse diese lauten Bässe. Ich werde wütend, wenn ein selbstverliebter Gockel mit geöffnetem Fenster und aufgestützten Ellbogen im Auto heranfährt und ich die Bässe kilometerlang vorher schon hören muss - unfreiwillig, versteht sich. Die Bässe schlagen gegen meinen Herzrhythmus, sie stören meinen Lebensfluss, irritieren mich, besonders nachts, sie machen mich irgendwie krank. Merke nur ich das?
In letzter Zeit macht sich ein neuer Trend bemerkbar: Junge Leute ziehen ihre riesigen Verstärker auf Rädern wie einen Rollkoffer hinter sich nach. Dazu lassen sie ihre für meine Ohren ziemlich einfältige Pum-pum-Musik auf voller Lautstärke dröhnen - auch nachts. Ich finde das, gelinde gesagt, eine Zumutung. Bin ich die Einzige? Bin ich bloss zu alt, die Jugend zu verstehen?
Bin ich die Einzige, die manchmal denkt, dass viele Jugendliche in der Schweiz verwöhnt sind und nicht mehr gelernt haben, Rücksicht auf die übrigen Mitglieder der Gesellschaft zu nehmen? In Bern demonstrieren junge Leute für mehr Partyräume. Ist das zu fassen? Ist denn ihr Leben so armselig geworden? Haben sie nichts anderes mehr, wofür sie sie sich einsetzen können?
Zugegeben, meine Generation war wohl die glücklichste aller Zeiten. Als wir jung waren, dachten wir, wir könnten die Welt verändern. Wir gingen auf die Strasse, politisierten für eine bessere Welt - selbstverständlich, was wir darunter verstanden. Wir waren wild und unsere Rebellion schoss häufig übers Ziel hinaus, aber wir nahmen teil, engagierten uns und fühlten als wichtige Mitglieder der Gesellschaft. Unsere Motivation, auf die Strasse zu gehen, war eine ganz Andere als heute. Besonders von uns Frauen. Aufgewachsen sind wir häufig in Elternhäusern, wo vor allem Verbote herrschten, in einer Gesellschaft, wo tradierte Wertvorstellungen galten mit klaren Rollenverteilungen. Die Freiheit, die heute so selbstverständlich ist, mussten wir uns erst erkämpfen. Eine gesellschaftliche Freiheit, deren Wert und Bedeutung viele junge Menschen heute kaum noch erahnen.
Es ist nicht die Schuld der jungen Menschen, die denken, sie hätten das Recht, sich alles zu erlauben. Es ist die Schuld der Eltern, die keine Grenzen mehr setzen. Und ein bisschen ist es auch die Schuld meiner Generation, die ihre Kinder zu solchen Eltern erzogen hat. Zu egoistischen Eltern, die sich nur noch um das individuelle Fortkommen und nicht um ihre Verantwortung in der Gesellschaft kümmern. Woher sollten es ihre Kinder lernen?
Wenn ich lese, wie viele Schüler in Deutschland heute glauben, unter Hitler sei Deutschland eine Demokratie gewesen, wenn ich lese, dass in islamischen Ländern Hitler als grosser Staatsmann verehrt wird und wenn ich an die rassistischen Entgleisungen von SVP-Mitgliedern denke, erschrecke ich. Wenn im Zeitalter der überall zugänglichen Informationen das allgemeine Wissen derart dramatisch abnimmt, bekomme ich Angst. Es gäbe so viel, wofür sich die jungen Menschen heute einsetzen könnten, nicht nur in den Nahost-Staaten, wo die ersten zaghaften Versuche für eine demokratischere Gesellschaft schon wieder zu scheitern drohen.
Es ist eine banale Tatsache: Die eigene Freiheit darf nur soweit gehen, als sie die Freiheit des Andern nicht einschränkt. Eine Gesellschaft braucht eine kritische Jugend, die sich für ihre Anliegen einsetzt. Aber nicht für Partys. Oder für Botellóns.
Und jetzt bin ich wieder beim Lärm. Muss es wirklich immer so laut sein? Ist meine Überempfindlichkeit auf unnötigen Lärm, den ich als Respektlosigkeit mir gegenüber empfinde - mir und allen andern, die den Lärm auch nicht mögen -, ist das bloss eine Frage des Alters?

Montag, 20. August 2012

Nur geteilte Verantwortung bringt uns weiter

Kürzlich hat mich eine in der Schweiz lebende Amerikanerin - etwa in meinem Alter, also nicht mehr jung - gefragt, wo denn in der Schweiz - vor allem bei den jungen Frauen - das Bewusstsein der Emanzipation geblieben sei und ob es denn hier keine Feministinnen gebe. Sie sprach vom  allumfassenden Diktat des Schönseins nach Männerkriterien. Kaum eine junge Frau geht heute noch ungeschminkt auf die Strasse - zumindest in der Stadt -, der schlanke, (nicht immer geglückt) auf sexy gestylte Körper, die gefärbten Haare sind zum Normalfall geworden. Teure Kosmetika, Schönheits-OPs schon in jungen Jahren, Liftings, Zahnbleeching und, und, und… Das Diktat: Für Frauen ist Schönheit in jeder Situation und in jedem Lebensalter ein matchentscheidender Vorteil. Wer nicht mitmacht, hat schon verloren. Mit andern Worten: Frauen werden noch immer oder wieder ausschliesslich über ihre äussere Erscheinung wahrgenommen und tun (fast) alles, um (den Männern) zu gefallen. (Und wer glaubt, rundliche Frauen, die sich in Bikinis fotografieren lassen um zu beweisen, dass sie auch schön sind, würden sich dem Diktat entziehen, der irrt. Sie verfallen genau dem gleichen Muster, sonst müssten sie sich nicht auf diese Art beweisen. Und Männer, die das dann wohlwollend kommentieren, verhalten sich genau so sexistisch, wie diejenigen, die diese Frauen bloss stellen.)
Natürlich kann frau jetzt einwenden, dass es um Freiheit gehe, um Selbstbestimmung, um die Überwindung diskriminierender Tabus usw. Ist das so? Ich lasse mal alle diejenigen weg, die sich keine Gedanken darüber machen, woher diese Freiheit kommt, weil für sie schon seit Geburt selbstverständlich ist, wofür ihre Mütter und Grossmütter noch kämpfen mussten. Ich lasse auch diejenigen weg, die glauben, Heiraten und Kinder kriegen sei nach wie vor die einzig wahre Erfüllung eines Frauenlebens. Alle Anderen wissen, dass die Emanzipation nicht darin gipfelt, dass wir Frauen uns nun auch Stripper ansehen dürfen... http://www.tagesanzeiger.ch/ipad/zuerich/Frauen-sind-anspruchsvoller/story/31027639
Aber was bedeutet heute Feminismus? Kürzlich las ich, dass Frauen - weltweit - noch immer als Objekte und Männer eher als Personen wahrgenommen werden. Zwei Studien zeigen diese Mechanismen auf:  http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article108619670/Frauen-werden-primaer-als-Sexobjekte-wahrgenommen.html 
Wir wissen alle, wie stark unser Gehirn von Sexualhormonen beeinflusst ist und wie testosterongesteuert viele Männer denken. Aber welche Schlüsse ziehen wir daraus?
Sicher. Die Frauen sind heute selbstbewusster, sie haben Zugang zur Bildung, zur Berufswelt, sogar bis in höhere Chargen, in unserer westlichen Kultur ist der Weg bis in die politischen Machtzentralen zwar steinig aber möglich, und mittlerweile gibt es sogar ein paar wenige Exotinnen unter den Entscheidungsträgern der Wirtschaft. Aber noch immer bestimmen die Männer die Verhaltensregeln. In den allermeisten Fällen passt frau sich an, wenn sie es bis in die Männergremien schaffen will. Mit dem Resultat, wir bis heute keine wirkliche Gleichstellung erreicht haben. Nämlich die geteilte Verantwortung in allen Bereichen. Obwohl man heute weiss, dass Entscheidungen, die von einem gemischten Gremium gefällt werden, in der Regel nicht nur ökonomisch, sondern auch gesellschaftlich nachhaltiger sind.
Frauen und Männer sind biologisch unterschiedliche Wesen. Gott sei Dank! Es geht beileibe nicht darum, diesen Unterschied zu verkleinern oder zu verändern. Aber so lange dieser Unterschied bloss als Argument oder als Anlass für den Geschlechterkampf dient statt als Ansporn, gemeinsam eine bessere Zukunft zu schaffen, so lange ist die Menschheit noch längst nicht emanzipiert.
Ich frage mich, warum das so ist. Und ob wir jemals aus dieser Falle herausfinden. Schauen wir uns doch einmal um. Bei der Genderfrage liegt der klare Vorteil noch immer beim männlichen Geschlecht. Gejammer über Weicheier oder Frauenbonus hin oder her. Klar ist: Starke Frauen wünschen sich starke Männer. Umgekehrt müssten sich starke Männer eigentlich auch starke Frauen wünschen. Aber offenbar ist das ein Problem. Starke Frauen gelten als männlich, ausser sie setzen ihre Stärke in Form ihrer weiblichen Reize ein. Und genau das ist die Crux. So lange die Frauen ihre Ziele auf diesem Weg erreichen, verhalten sie sich angepasst und werden von Männern, von männlichen Denk- und Verhaltensmuster abhängig bleiben. Zum Nachteil der Gesellschaft. Denn starke Frauen sind sehr oft mutiger, im Denken unabhängiger und freier in ihren Entscheidungen. Das macht sie für Männer unberechenbar. Davor haben Männer offenbar Angst. Und diese Angst macht aus angeblich starken schwache Männer.
Die Stadt Zürich will Frauenquoten einführen. Auch so ein Reizthema. Ich war früher dagegen, weil ich dachte, dass Quoten eher schadeten, weil es die Frage der Alibifrauen aufwirft, resp. weil Frauen so auf eine neue, noch subtilere Art diskriminiert würden. Aber sehen wir es doch mal umkehrt:  Wie viele unfähige Männer sitzen schliesslich auf ihren Posten, nur weil sie Männer sind? Und wie viele unfähige Politiker muss die Welt eigentlich noch erdulden? Und wie lange glauben wir noch den hartherzigen, lebensfeindlichen Kirchenmächtigen, deren Ideologie dazu dient, das männlich geprägte Zerrbild der Gesellschaft zu zementieren.
Würde es besser, wenn Frauen bis in die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsgremien gleichgestellt, resp. angemessen vertreten wären?
Ich bin keine Hellseherin, ich weiss es nicht. Ich bin aber überzeugt, dass es diese Chance gibt. Vorausgesetzt, die Frauen übernehmen nicht die Denk- und Verhaltensweisen der Männer. Und dafür braucht es wahrscheinlich die Quoten. Denn vorher wird jede Entscheidung zwangsläufig männlich dominiert sein. Das heisst, es werden auch keine oder zumindest keine entscheidend wirksamen Voraussetzungen geschaffen, die eine Gleichstellung in allen Bereichen und auf allen Ebenen überhaupt ermöglichen. Zu diesen Voraussetzungen gehören nicht nur die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, von denen  es noch immer nicht genügend gibt, sondern - wie wir alle wissen - vor allem die Teilzeitarbeit und das Jobsharing vom privaten Bereich bis in die Chefetagen. Und die Aufwertung sogenannter Frauenberufe. Zu diesen gehört neuerdings auch der Lehrerberuf. Was den Berner Erziehungsdirektor zur Forderung veranlasst, dass man für die Lehrer die Löhne erhöhen sollte, damit man vermehrt wieder Männer für den Job rekrutieren könne…
Ich plädiere nicht dafür, dass alle Frauen Chefs und alle Männer Hausmänner werden müssen. Ich plädiere auch nicht dafür, dass Frauen sich nicht für die konventionelle Lebensform mit Mann, Kinder, Heim und Herd entscheiden sollen. Und ich plädiere schon gar nicht dafür, dass Frauen ihre Schönheit oder ihre Reize verstecken sollen. Aber ich plädiere dafür, dass Schönheit nicht bloss von der Werbung definiert wird. Und ich plädiere dafür, dass Frauen nicht nur auf irgendwelchen Gleichstellungspapieren, sondern tatsächlich als gleichwertige Menschen gesehen und behandelt werden wie Männer. Wer sagt, das sei in der westlichen Zivilisation schon jetzt Allgemeingut, der stellt sich blind. Die Sexyness ist bloss die Kehrseite der Verschleierung.
Wenn die kommende Frauengeneration sich nicht auf ihre Stärken (z.B. vernetztes, konsensorientiertes Denken, umsichtige und sinnorientierte Planung, situativer Führungsstil usw.) besinnt, und wenn auf der andern Seite die Mehrheit der Männer sich nicht emanzipiert und Frauen weiterhin entweder als Sexobjekte oder als Gefahr empfindet, dann bleiben Emanzipation und Gleichstellung noch für lange Zeit auf der Strecke. Zum Schaden Aller... Nicht, weil die Frauen alles haben und tun sollen, was die Männer haben und tun können, sondern weil Frauen - zusammen mit emanzipierten Männern - die Welt verändern könn(t)en… zugunsten Aller.
Übrigens: Wie stark Frauen und wie schwach Männer sein können, zeigt das jüngste Beispiel Pussy Riot.

Sonntag, 12. August 2012

Oute mich als hoffnungslos bieder!

In Woody Allens neuem Film „To Rome with Love“ gibt es die herrliche Geschichte vom biederen Buchhalter, der plötzlich berühmt ist, weil die Medien ihn ohne jeden Grund dazu machen. Berühmt sein, einfach, weil man es ist.
Das ist in meinen Augen die Streetparade. Ein „Event“ (welch Zauberwort), der eine Million Menschen anlockt, einfach, weil alle finden, dass dies eine supermegatollenichtzuverpassende Party ist. Ganz klar. Ich bin zu alt, um das beurteilen zu können. Auch wenn ich leidenschaftlich gerne - und jawoll - auch sehr gut tanze… auch den Rave. Und obwohl ich ein ausgezeichnetes Musikgehör und - jawoll - auch den Rhythmus im Blut habe.
Oder vielleicht gerade deshalb?
Ich gebe zu: Ich bin geflüchtet, weil ich viel zu laut dröhnende Bässe nicht mag. Und weil ich supermegatollenichtzuverpassende Anlässe überhaupt nicht mag. Also bin ich nach Bern geflüchtet. In die Altstadt, meine alte Heimat. Wo ein anderer supermegatollernichtzuverpassender Anlass die Menschen anlockte. Allerdings nicht in Zürcherischen Dimensionen.
Wie das halt so geht. Jeder sieht seine Vorurteile bestätigt. Beim Einsteigen in den Zug kam mir eine Gruppe bereits total besoffener Männer johlend und gröhlend entgegen. Mit zwei nicht eben vorteilhaft aufgemotzten jungen Mädchen, die auch schon so Einiges intus hatten. Der Wagen roch nach Bier. Schon am Nachmittag..
Quelle différence in Bern! Mal abgesehen vom hässlichsten Bahnhof der Welt, den ich immer so schnell wie möglich wieder hinter mir lasse, war der Weg in die untere Altstadt so etwas wie ein befreites Aufatmen. Die Menschen sassen oder flanierten in den Gassen,  Menschen jeden Alters, bunt gemischt, alte Damen, fröhliche Kinder, viele schöne junge Mädchen, sexy, aber nicht aufreizend gekleidet, kaum oder gar nicht geschminkt. Stark! Strassen-MusikerInnen, KomödiantInnen, GauklerInnen, AkrobatInnen aus aller Welt richteten sich ein für den Start am 3. Tag des Buskerfestivals, das um 18 Uhr begann und auf den verschiedenen in der ganzen Altstadt verteilten Bühnen bis in die Nacht dauerte. Die Leute haben auch getanzt. Und zugehört. Und sich gefreut. Das Gebotene war vielfältig, teilweise musikalisch hervorragend, witzig, schräg, farbig. Besoffene habe ich keine gesehen. Den ganzen Abend nicht. Erst im Bahnhof wieder die üblichen Alkis.
Im Zug klagte die Schaffnerin über stinkende und verdreckte Abteile (wer bezahlt das eigentlich). Als ich in Zürich ausstieg, sassen und lagen auf dem Perron total erschöpfte, abgelöschte, junge Menschen, viele davon offensichtlich besoffen oder zugedröhnt. Im Gedränge in der Halle knallte eine Petarde, danach ein Gegröhle, das erste Abteil in der S-Bahn war vollgekotzt, am Stadelhofen musste ich mich durch die Einsteigenden aus dem Zug boxen, der Boden klebte, alles war ziemlich gruusig, rund um den Stadelhofen und bei der Tramstation bedeckten fallen gelassenes Papier, halb gegessene Pizzas Becher usw. den Boden... Ich war wieder in Zürich!
Im Tagi hat ein Journalist geschrieben, die Streetparade sei ein Sieg der Eventstadt über das biedere Zürich. Ich oute mich deshalb als hoffnungslos bieder. Auch wenn ich finde, eigentlich sei diese Party total bieder.

Montag, 30. Juli 2012

Was mache ich hier?

Ich lese mehr oder weniger hervorgequälte Geistesblitze, deren tieferer Sinn mir meistens verschlossen bleibt, erfahre, wem wo was gerade einfällt oder auffällt, bekomme so weltbewegende Einsichten mit wie die Tatsache, dass wir am Morgen selten ausgeschlafen sind, oder es wird mir mitgeteilt, was der oder die in exakt diesem Moment isst oder sieht oder was auch immer gerade macht. Oder ich bekomme Bilderrätsel zu lösen, wer oder was dies oder das sein könnte und fühle mich bemüssigt, darauf eine vollkommen belanglose und unnötige Antwort zu twittern. Hauptsache originell...
Nach geschätzten zwei, vielleicht drei Wochen Twitterexistenz frage ich mich: Was mache ich hier eigentlich? Statt mich mit wichtigen Dingen zu beschäftigen oder zumindest zu erledigen, was schon lange darauf wartet, getan zu werden, klicke ich mich via Tablet bei Twitter ein und folge dem digital komprimierten Mitteilungsbedürfnis meiner Mitmenschen, von denen ich die wenigsten persönlich kenne. Oder ich sitze im Tram und statt in meinem Taschenbuch zu lesen, das ich auch dabei hätte, ziehe ich das iphone aus der Tasche, befriedige meine Klatschneugierde und überlege mir dabei, welche betont originelle Banalität ich diesem Geplapper beifügen könnte, bloss, damit ich meine Follower nicht enttäusche, resp. nicht riskiere, wieder entfollowt (ha!) zu werden.
Ich gebe zu: Es zieht mich auf eine unangenehm hartnäckige Art an und stösst mich gleichzeitig ab. Was ich hier mache ist krank! Es stiehlt meine Zeit. Meistens. Und ich beschliesse auszusteigen. Dann bekomme ich einen Hinweis auf einen ganz hervorragenden Blogpost oder Artikel und denke, ohne Twitter hätte ich den nicht gelesen. Was mir den Grund liefert, doch nicht auszusteigen, obwohl ich mit dem Lesen dieser Blogs und Artikel noch mehr meiner Zeit verliere. Das ist irgendwie schizophren.
Als ich mich in dieses Minenfeld begeben habe, vor geschätzten zwei oder drei Wochen, habe ich die gleiche Frage getwittert, die ich mir jetzt stelle: Was mache ich hier? Ein Bekannter hat zurückgezwischert: „Du wirst sehen, es ist total geschwätzig, aber auch faszinierend!“ Stimmt. Es ist geschwätzig! Und es ist faszinierend! Ich liess mich reinziehen in diese „Echtzeit“-Cyberwelt, die mir die Illusion liefert, teilzunehmen, an was auch immer, die mir die Möglichkeit bietet, meine Meinung, (die sicher alle brennend interessiert), kund zu tun, die mich animiert, mich der öffentlichen Empörung anzuschliessen bei einem Thema, über das ich vorher noch nie nachgedacht hatte. Und wenn ich dann darüber nachgedacht habe, ist diese öffentliche Empörung bereits wieder vorbei, denn schon ist das nächste Thema aktuell, über das wir uns ein bisschen empören, bevor wir es wieder vergessen. Und so geht das einfach immer weiter. Was geschieht da mit mir?
Warum twittern die Menschen? Warum twittere ich? Dass meine Lieblingstwitterin, die böse, kluge, zynische Sybille Berg auf diesem Weg ihre messerscharfen Spiegel-Kolumnen oder ihre Sonntags- und andere Wochentagstexte ankündigt, begreife ich, resp. sehe darin den gewünschten Nutzen, und ich bin ihr dafür sogar dankbar, denn so kann ich sie gleich lesen, was in der Regel ein Genuss bedeutet, denn sie ist eine Meisterschützin, die fast immer mitten ins Schwarze trifft, dort, wo auch ich den wunden Punkt erkenne.
Aber ich? Ich bin weder Politikerin, noch bin ich prominent, noch habe ich ein Produkt oder eine webpage zu vermarkten, auch habe ich keine Fangemeinde, die ich befriedigen muss… noch nicht... ;)) Warum also sondere ich öffentlich Gedanken ab, die niemanden interessieren? Liegt es am Ego? Am meinem Bedürfnis, mich mitzuteilen? In Ermangelung physisch anwesender Diskussionspartner? Erspart mir die Cyberwelt die sehr viel anstrengendere Auseinandersetzung mit der Realität? Liefert mir die virtuelle Empörungsplattform die Ausrede, nicht handeln zu müssen? Die Frage zu stellen heisst gleichzeitig sie zu beantworten.

Samstag, 21. Juli 2012

Beschneidung geistiger Freiheit

Das Kölner Urteil ist zweifellos richtig, denn das Kindswohl und das Recht eines Kindes auf körperliche Unversehrtheit sollte in einer aufgeklärten, zivilisierten Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit und keine Frage mehr sein, die es zu diskutieren gilt. Für mich ist absolut klar, dass auch die Beschneidung von Knaben einer Körperverletzung gleichkommt und - wenn sie in einem religiösen Ritual nicht fachgerecht und ohne Narkose durchgeführt wird - zusätzlich eine massive Kindsmisshandlung bedeutet. Die religiöse Argumentation ist für mich - als Nicht-Religiöse - irrelevant. Aus ethischer, juristischer und medizinischer Sicht ist für mich klar: die Beschneidung gehört abgeschafft.
Trotzdem: Was mich an der Diskussion um die Beschneidung so ärgert, ist die Scheinheiligkeit, mit der sie geführt wird. Da braust eine Welle „political correctness“ heran, und im Meer der politisch korrekt Empörten lässt es sich ja bekanntlich leichter schwimmen als gegen den Strom.
Nehmen wir mal die Lautesten, die empörten Männer, die meisten von ihnen vermutlich Nichtbetroffene. Ich gehe mal davon aus, dass einigen von ihnen die Vorstellung, ihr bestes Stück könnte um etwas Haut beschnitten - und, oh Gott, womöglich verkürzt - sein, den baren Horror auslöst. Ihnen allen sei gesagt: Er wird nicht kürzer, nur schöner!
Wirklich empörend finde ich, dass diese Männer, die sich jetzt so laut zu Wort melden, die Beschneidung der Knaben mit der rituellen Beschneidung der Mädchen vergleichen. Meine Herren, das ist nicht vergleichbar. Die Beschneidung der Knaben kann aus unterschiedlichen Gründen erfolgen: aus medizinischen (Phimose), aus religiösen, aus hygienischen, sogar aus ästhetischen. Ob ein beschnittener Mann länger kann und mehr Lust empfindet, wie es auch heisst, weiss ich nicht, aber ich weiss mit Sicherheit, dass es bei Männern definitiv keine Lustverhinderung und auch keine Behinderung ist. Ganz im Gegensatz zu den Frauen: Bei ihnen ist es eine grauenvolle Verstümmelung, die in jedem einzelnen Fall lebenslanges Leiden zur Folge hat. Wer darüber mehr wissen will, dem seien Buch und Film „Die Wüstenblume“ von Waris Dirie dringend empfohlen.
Auch das Argument, das Kind müsse über seine Religionszugehörigkeit später frei entscheiden können, dient nicht als Argument. Ein beschnittener Penis hindert keinen einzigen Mann daran, im Erwachsenenalter selber zu entscheiden, ob er sich einer Religion zugehörig fühlt oder nicht. Er kann sich jederzeit davon lossagen, sie wechseln oder sich ganz von der Religion abwenden. Nicht der Pimmel hindert ihn daran, sondern etwas ganz Anderes. Und damit komme ich zu einer Form der Beschneidung, die ich als sehr viel dramatischer erachte, als die Beschneidung der jüdischen und muslimischen Knaben, nämlich die Beschneidung der geistigen Freiheit und des geistigen Horizonts  durch religiöse Indoktrination - und das geschieht nicht nur bei Muslimen und bei Juden. Und die Folgen sind um ein Vielfaches gravierender. Darüber müsste man sich empören!

Mittwoch, 11. Juli 2012

Buch oder E-book?

Schon der Titel ist bezeichnend. Es heisst nicht mehr Buch, es heisst jetzt E-book! Auf Englisch. Wer modern ist, liest elektronisch, Papier ist uncool!
Ich stehe zur "bürgerlichen Bücherwand", wie ein Zeitungsschreiber die während eines langen Lebens gekauften, gelesenen und nicht mehr hergegebenen Bücher in den eigenen vier Wänden kürzlich abschätzig genannt hat. Weiss er denn überhaupt, wovon er schreibt? Journalisten - ich bin selber eine - sind Schnellleser. Am liebsten ist ihnen die knapp zusammengefasste Meldung, allenfalls versuchen sie sich selber - mehr oder weniger geglückt - in literarischer Schreibe. Aber lesen, ich meine, mit Hingabe und mit Genuss lesen, das tun die wenigsten. Und je jünger sie werden, je weniger kennen sie das sinnliche Erlebnis, ein Buch in der Hand zu halten und neugierig darauf zu sein, was sich ihnen zwischen den beiden Buchdeckeln für eine Welt auftut. Weil es immer weniger Eltern geben wird, die ihnen dieses Erlebnis vermitteln können.
Die Aussage "Bücher sind sinnlich"  ist eine Platitüde, ich weiss. Trotzdem: Ich meine das ganz wörtlich. Bücher riechen, sie machen Geräusche, sie verändern ihr Aussehen beim Lesen, sie kriegen vielleicht Ohren, ich kann reinschreiben, ein Buchzeichen dort einlegen, wo mir eine Stelle wichtig ist, Bücher haben einen Charakter, der sich schon in der Auswahl der Schrift oder in der Gestaltung des Umschlags äussert, Bücher sind Persönlichkeiten, Zeugen, die, wenn ich sie ansehe, mich an die unendlich vielen Gedanken, Geschichten und Universen erinnern, die sie zwischen ihren Deckeln einschliessen und sich mir wieder öffnen, wenn ich die Seiten aufschlage, um vielleicht etwas nachzulesen oder zu zitieren, weil in einem Gespräch davon die Rede ist.
Natürlich kann ich  vieles auch elektronisch nachlesen. Teilweise kann ich sogar besser und gezielt danach suchen, je nachdem, worum es sich handelt. Google und Wikipedia sind wunderbare Errungenschaften. Sie ersparen mir Zeit und erleichtern mir, meine Wissen zu aktualisieren und mein Bildungsniveau einigermassen à jour zu halten. Vorausgesetzt, ich habe meinen Laptop oder mein tablet dabei. Und ich mag es auch, unterwegs mit dem iphone die neuesten News zu lesen oder via Twitter einen Gedankenblitz abzusondern. Ich bin nicht gegen die moderne Technik und weiss sie sehr wohl zu schätzen. Trotzdem:
Das tablet sei praktischer, heisst es allenthalben. Stimmt das wirklich? Ich finde nicht! Mal abgesehen davon, dass die Auswahl massiv eingeschränkt ist und ich nur aus den angebotenen Titeln wählen kann: Ist es tatsächlich praktischer, den ipad oder was auch immer, diese unbiegsame, steife und auch nicht ganz leichte Platte mitzuschleppen? Da lob ich mir das Taschenbuch, es ist auch nicht schwerer und erst noch wendiger, macht sich weniger breit und stopft schon mal eine Lücke zwischen all den anderen Dingen, die auch noch in der Tasche Platz haben wollen. Und beim Lesen kann ich das Taschenbuch in allen möglichen Sitz- oder Liegendstellungen immer noch bequem halten, während das ebook, dieses lästige, unbewegliche Ding mir keine Wahl lässt.
Man könnte zur Ehrenrettung des ebook natürlich sagen, es umfasse das ganze virtuelle Universum in seinem Gehäuse. Auch ein reizvoller Gedanke, das stimmt. Andererseits ist es ein beliebiges Universum, worin alles marginalisiert wird, und wo ein Buch eben kein Individuum mehr ist, sondern zur Massenware wird, sicher billiger, je nachdem zugänglicher und wohl auch demokratischer. Kann sein.
Sind Bücherwände deshalb elitär? Bürgerliche Statusdemonstrationen? Hoffnungslos veraltete Bildungsbürgernostalgie? Vielleicht. Trotzdem bleibe ich beim Buch, auch wenn ich damit künftig den Eindruck der kulturbeflissenen Spiesserin erwecke. Ich stehe zu meiner Bücherwand. Ich liebe meine Bücher, nicht nur an Wänden, auch auf jeder Ablage und auf dem Tisch. Und ich bin zum Glück alt genug, immer noch neugierig zwar, aber auch alt genug, um wieder auf die Seite zu legen, was ich geprüft und für mich als unbefriedigend empfunden habe.






Sonntag, 8. Juli 2012

Twittern macht Spass - mit Mass

Wer hätte das gedacht! Ich twittere und habe Spass daran. Während ich den Nutzen von Facebook noch nicht richtig erkannt habe, sehe ich im Twittern tatsächlich einen Gewinn.  Was ich nicht wusste: Redaktionen twittern ihre neuesten Artikel samt Link, den ich dann öffnen und lesen kann. Eine Selektion zwar, aber immerhin. Den Spiegel kaufe ich nicht mehr, ist mir zu dick, immer alles online durchzuchecken, ist mir zu zeitaufwändig, aber auf diese Weise komme ich wieder an den intelligenten, bitterbösen, sprachwitzigen und gnadenlos sezierenden Blog von Sybille Berg. Zum Beispiel. Oder ich kann - wenn ich will - die breaking news von CNN (ver)folgen - und wenn es mir zuviel wird, auch wieder "entfolgen". Oder ich kann mir Journalisten aussuchen, die ich schätze und deren Artikel oder auch Empfehlungen zu einem Thema, das mich interessiert, via Twitter lesen. Sollte ich das Bedrüfnis haben, ihn weiter zu empfehlen, weil ich ihn so hervorragend oder so treffend oder so wichtig finde, kann ich diesen Artikel dann an meine "Followers" - sofern ich welche habe - twittern. So funktioniert das also.
Aber es ist noch viel spannender: Vorgestern und gestern war ich sozusagen an den Klagenfurter Literturtagen dabei, ohne dass ich mir die selten wirklich fesselnden Texte der Autoren anhören musste, die sich erhoffen, von der erlauchten Jury in den literarischen Bedeutungsolymp aufgenommen zu werden - samt eternem Ruhm, versteht sich. Und das funktioniert dann so: Unter dem Namen @literaturclub hat jemand - wer das ist, weiss ich nicht, aber er ist offensichtlich ein Literaturkenner - laufend kommentiert, was gerade gelesen oder von der Jury diskutiert wurde - und zwar auf eine ausgesprochen launige und witzige Art. Das reichte von Einschätzungen zum Text, über Stellen, die der Twitterer in positivem oder negativem Sinn kommentierte, über Zitate von Jurymitgliedern während der Diskussion bis zur Beschreibung der Bluse der Frau Strigl... ;)) Richtig witzig und unterhaltend. Statt dass ich den lieben, langen Tag am Fernsehen zugeschaut - wenn ich denn gewollt  - und mich dabei mit grösster Wahrscheinlichkeit gelangweilt hätte, konnte ich über Mittag schnell das Live-Gezwitscher lesen und war auf höchst vergnügliche Weise aufdatiert, was so gelaufen ist. Toll!!!
Wie sehr man doch in seinen Vorurteilen festgefahren ist. Kürzlich hat mich eine ehemalige Kolleging besucht und mir vom Twittern geschwärmt. Ich dachte, soll sie doch, für mich ist das nichts. Was interessiert es mich, welches Mitteilungsbedürfnis Promi X oder Politikerin XY gerade so plagt. Aber mich hat dann doch der Gwunder gestochen und ich habs einfach mal ausprobiert. Ich ar ohnehin neugierig, wie es funktioniert. Vor allem, weil Twitter in den arabischen Jugendbewegungen eine so grosse Rolle spielt. Ausserdem sollte man, oder besser frau, sich sowieso für diese Dinge interessiren, wenn sie im Pensionsalter noch einigermassen à jour bleiben und nicht plötzlich den Draht zur (sogenannten, ich weiss) Welt verlieren will. Immerhin kann ich jetzt von mir behaupten zu wissen, wovon ich rede. Im Gegensatz zu den meisten, die über Twitter lästern.
Zufälligerweise war dann am folgenden Sonntag ein Interview mit Sherry Turkle, Professorin am MIT und "Cyber-Diva" im Tagi-Magazin. Sie warnt - zu Recht - vor der Vereinsamung und vor der Verdummung durch Social Media. Tatsächlich sind wir dabei, den direkten Zugang zu unseren Mitmenschen zu verlieren. Und da denke ich eben nicht nur an die Kinder, die nur noch via iphone kommunizieren, sondern noch viel mehr an die Erwachsenen, die sich in der individualisierten Gesellschaft nur noch um sich selbst kümmern (mich nicht ausgenommen). Wir sind von den rasend schnell sich erneuernden und weltweit verbreitenden Möglichkeiten, die sich uns bieten, überrollt worden und haben nicht mit der gleichen Geschwindigkeit gelernt, damit umzugehen. Es gibt immer mehr und immer Neues - und tatsächlich auch Spannendes - zu entdecken, aber wir geraten so immer mehr in Zeitnot, die uns davon abhält, das reale Leben zu leben oder zu tun, was wir eigentlich tun wollten oder tun sollten (so, wie ich jetzt, ich sollte an meinem Buch weiterschreiben...).
Ich weiss nicht, ob wir, d.h. unsere Generation die überforderte ist oder die unserer Kinder und Enkel. Ich weiss nur, dass wir wieder lernen müssen, uns auf die wichtigen Dinge zu fokussieren. Und das bedeutet, eine Auswahl zu treffen. Gerade das fällt schwer bei der unendlichen Angebotsvielfalt. Ich weiss aber auch: Rückzug ist nicht die Lösung. Ich für mich habe es, so glaube ich wenigstens, einigermassen im Griff. Ich beschränke mich auf die Dinge, die mir wichtig sind, meistens jedenfalls, und bleibe trotzdem offen für Neues. Aber ich bin in einem Alter, in dem ich es mir leisten kann. Das Gestalten der Zukunft muss ich den Jungen überlassen. Und das ist gut so.

Sonntag, 22. April 2012

Januskopf Blocher

Im heutigen TA Magazin ist ein Artikel von Daniel Binswanger über die Unzufriedenheit innerhalb der SVP über Blochers Unfähigkeit loszulassen. Wie immer ein gut recherchierter, emotionslos analysierender Bericht von hohem Informationswert mit leisen Untertönen, etwa die Bemerkung über die Anweisung Blochers an seine Kinder, die alten Firmencomputer zu schreddern, damit Geheimes geheim bleibe.
Gestern sagte ein guter Bekannter einmal mehr, dass Blocher wenigstens sage, was er denke. Ich bin immer wieder erstaunt über die politische Naivität vieler Menschen, denen man eigentlich mehr kritische Distanz zutrauen würde. Blocher hat nie einfach nur gesagt, was er denkt. Dazu ist er viel zu schlau. Er sagt, was er sagen will und verschweigt, was er verschweigen will. Die Basler Zeitung ist da nur eines von vielen Beispielen. Wie perfid sein Schweigen sein kann, zeigt die Art und Weise, wie er Bruno Zuppiger ins Messer laufen liess. Er wusste um dessen Machenschaften - sie standen ein Jahr zuvor in der Zeitung, aber er hat Zuppigers Kandidatur nicht verhindert, um ihn dann via Weltwoche ein für allemal mundtot zu machen. Dieses Beispiel zeigt, wie Blocher mit Menschen umgeht, die ihm nicht passen. Das wissen alle in der Partei, die er zu seinem persönlichen Machtapparat umgestaltet hat. Deshalb ist auch Widerspruch so selten. Man zahlt ihn teuer.
Entscheidend für die Handlungen Blochers ist seine Psyche. Sein Freund Roger Köppel von der Weltwoche, an der Blocher mit Sicherheit auch in irgend einer Weise beteiligt ist, hat geschrieben, Blocher fehle das Gen zur Demut. Das ist treffend. Ihm fehlt jedoch auch das Gen zur Einsicht, das Gen zur Bescheidenheit, das Gen zu kritischer Selbsthinterfragung und und und. Blocher ist ein Januskopf: Auf der einen Seite ist er eine Missionar, der glaubt, er müsse die Welt oder wenigstend die Schweiz auf den rechten Weg bringen. Welches dieser rechte Weg ist, ist für ihn sonnenklar: der Weg, den er persönlich für den richtigen hält. Davon ist er sogar überzeut und so kann er durchaus sagen, was er denkt. Schliesslich haben nur die Anderen unrecht. Auf der anderen Seite ist er ein Machtmensch, der skrupellos genug ist, alles seinen Zielen und Interessen unterzuordnen. So hat er sich sein Unternehmen unter den Nagel gerissen, so hat er sich seinen persönlichen Machtapparat, die Partei aufgebaut, und so behandelt er die Menschen, die er zu seinen Jüngern macht.
Blocher ist sicher ein interessante Figur mit einer ausserordentlichen Fähigkeit, die schwelende Unzufriedenheit im Volk aufzuspüren und für seine Zwecke einzusetzen. Aber seine Leistung ist geringer, als immer angenommen wird. Er besetzt seit Jahren zwei Themen, das ist die Verhinderung des EU-Beitritts und die Asylpolitik. Kurzfristig gibt ihm der Erfolg Recht. Langfristig wage ich dies zu bezweifeln.
Die Fortschritte in der Schweizer Politik erzielen die Anderen. Diejenigen, die in mühseliger Konsensarbeit nach Lösungen ringen. Doch das ist wesentlich weniger medienwirksam. Und es enspricht offenbar auch nicht dem Bedürfnis der Menschen, die die Verantwortung lieber jemandem überlassen, der das gerne für sie übernimmt.

Donnerstag, 12. April 2012

Denken verunsichert

Die Welt wird immer vernetzter, sie wird kleiner und damit komplexer, wir werden überschüttet von Informationen über immer noch neuere Erkenntnisse und Theorien, noch grössere Entwicklungen, noch bedeutendere Ereignisse, und wir sind laufend konfrontiert mit Problemen, die wir weder beeinflussen noch lösen können, mit denen wir nichts zu tun haben und die unser Leben doch beeinflussen. Die Versuchung ist gross, sich dem einfach nicht mehr auszusetzen, entweder indem wir uns entziehen, uns permanent beschäftigen, uns vom Leistungsdruck vereinnahmen lassen, uns nie der Stille aussetzen, uns von der omnipräsenten Unterhaltungsindustrie ablenken lassen oder durch einfache Erklärungen verführen lassen. Es gibt die Heilsverkünder überall, in der Politik, in der Religion, in abstrusen esoterischen Theorien, aber auch in der Wissenschaft, von der viele glauben, sie liefere die einzige verlässliche Antwort. 

Es gibt keine verlässliche Antwort. Jede Antwort ist nur so lange gültig, bis sie wieder hinterfragt wird. Das ist Denken. Fragen und hinterfragen. Denken schliesst alles ein, lässt alles offen, kommt nie an ein Ende, lässt keinen endgültigen Schluss zu. Denken ist wie das Universum, ohne Anfang und ohne Ende. Jeder Mensch hat sein eigenes gedankliche Universum, worin er sich zuweilen auch verlieren kann. Denken ist anstrengend, macht einen einsam. Denken verunsichert. Immer. Kein Wunder, das viele Menschen lieber glauben als denken.

Dienstag, 10. April 2012

London, April 2012

In London war ich zum ersten Mal vor über 50 Jahren (heute sind es 57 Jahre), mit meinen Eltern, da war ich noch nicht ganz 17 Jahre alt. Ich kann mich noch an eine düstere Stadt erinnern, so schwarz wie der Lappen, nachdem ich mich abends damit gewaschen hatte.

Von damals in Erinnerung geblieben sind mir noch die dreieckigen, pampigen Sandwiches, der Speakers Corner im Hyde Park, die riesigen Grabmale in der Westminster Abbey, eine Rötelzeichnung von Da Vinci, die im Eingang der Tate Britain hing, wo meine Mutter unbedingt hinwollte, und die schauerliche Folterkammer in Mme Tussauds Wachsfigurenkabinett, wohin mein Vater unbedingt wollte. Später, bei der Swissair, war London eine der angeflogenen Destinationen, doch übernachtet habe ich da nur selten, je nachdem, welche Rotation auf dem Einsatzplan stand, und wenn, verbrachte ich die knappe Zeit mit den Kollegen, meist bei Essen und Trinken. Nur manchmal erlaubte ich mir einen kleinen Alleingang. Das ist auch schon 40 Jahre her. Seither war ich nie mehr in London.

*

Klar, die Tube ist noch dieselbe, Treppchen auf, Treppchen ab, plötzliche Windstösse, die einen aus seitlichen Fussgängertunnels unvorbereitet anfallen und für ständig gerötete Augen sorgen, volle Züge, meistens so crowded, dass sich zwangsläufig die Assoziation zur Sardinenbüchse einstellt und man sich mit der sprichwörtlichen Gelassenheit der Engländer wappnen muss, um nicht in Panik zu geraten.

Gelassenheit ist ohnehin eine unabdingbare Eigenschaft bei so vielen Menschen, rund 8 Millionen (heute bald 9 Millionen), Disziplin eine weitere. Vor den Aufzügen drängelt niemand, ausser vielleicht ein paar Touristen, ist der Lift voll, wartet man halt auf den nächsten. Stoisch. Dank dieser offenbar typisch englischen Haltung bleibt auch die Aggressivität aus, die in anderen Städten in weniger bedrängten Situationen wesentlich stärker spürbar ist. In Berlin hatte ich ein ungutes Gefühl, als ich einmal nachts mit der U-Bahn unterwegs war, obwohl ich es mir wahrscheinlich nur einbildete. In London nicht. Vielleicht lag das aber nur daran, dass ich mich ausschliesslich im Zentrum aufhielt, viel weiter als Bloomsbury, wo ich wohnte, bin ich nicht gekommen.

*

Wenn ich damals, als ich noch geflogen bin, zum ersten Mal in eine Stadt kam, habe ich mich jeweils in einen Bus gesetzt und bin von Endstation zu Endstation gefahren. Es war die Zeit nach 68, ich wollte weder zu den Sehenswürdigkeiten noch in Museen pilgern, sondern wissen, wie die Menschen leben. Eine Stadt verändert sich und zeigt ihr wahres Gesicht, je nachdem in welche Richtung und je weiter man nach draussen fährt. Die Einkommensunterschiede werden deutlich, die Lebensbedingungen auch, man sieht die schöne oder die hässliche Umgebung, man sieht sie im Bus, die Menschen betrachtend, die ein- und aussteigen. In New York wusste ich immer, in welchem Viertel ich mich befand, die Separation war offensichtlich, ob jüdisch, chinesisch, schwarz oder weiss.

Als ich die ersten paar Male in London war, habe ich das auch gemacht. Ich weiss nicht mehr, wann wir jeweils landeten und wieder abflogen. Aber ich sehe noch das Hotel vor mir, wo wir übernachteten. Immer nur eine Nacht. Und ich sehe Busstationen vor mir, irgendwo draussen, wo ich allein wartete. Heute hat sich viel geändert, aber die sozialen Unterschiede sind noch da, die Einkommensunterschiede auch, die sind sogar noch weiter auseinandergegangen. Aber ich muss es nicht mehr mit eigenen Augen sehen, ich weiss es auch so.

*

Höflichkeit ist eine weitere sprichwörtliche Eigenschaft, die den Engländern nachgesagt wird. Ich kann sie bestätigen. An der U-Bahnstation war sofort jemand zur Stelle, als ich nicht genau wusste, wie viele Zonen ich lösen muss, überhaupt, wo immer ich etwas wissen wollte, habe ich geduldig Auskunft erhalten, wenn jemand zu schnell gesprochen hat und ich nicht genau verstanden hatte, hat man mir alles nochmals ausgiebig und in verlangsamtem Tempo erklärt, und die junge Frau am Ticketschalter der Oper warnte mich eindringlich, der Platz für die Beine sei zu eng, und als ich sagte, ich würde das (günstige) Ticket trotzdem nehmen, sagte sie noch einmal ganz besorgt: But you will feel uncomfortable.

Der Buschauffeur, der mich zur Tate Modern fuhr, sagte mir, ich solle nur Platz nehmen, er werde mich rufen, wenn es so weit sei. Er erinnerte mich an die Episode, die meine Mutter jedes Mal erzählte, wenn die Rede auf London kam, als der Bus abfuhr, sie schon drin und mein Vater und ich noch draussen, und sie nicht einen Penny dabei hatte, weil mein Vater das Geld verwaltete, zu Hause bekam sie von ihm das abgezählte Haushaltgeld und im Ausland bezahlte sowieso er. Der Chauffeur winkte freundlich ab und liess sie mehrere Stationen gratis mitfahren bis zur U-Bahnstation, wo wir hinmussten und wo mein völlig aufgelöster Vater, der schon geglaubt hatte, er habe seine Frau für immer verloren, und ich sie wiederfanden, lächelnd, als ob nichts gewesen wäre. Sie war diejenige, die Englisch konnte, sie war diejenige, die zurechtkam allein, ohne sie wäre er verloren gewesen, nicht umgekehrt, wie er immer dachte.

Das damals noch sprichwörtlich schlechte Essen gehört definitiv der Vergangenheit an, die Stadt bietet so ziemlich alles, was diese Welt gastronomisch zu bieten hat. An der Marchmont Street, in deren nächster Nähe ich wohnte, reiht sich ein kleines Beizli ans andere, man hat die Qual der Wahl zwischen italienischer Pizza, indischem Tandoori, englischem Beef oder was auch immer das Herz begehrt.

Das Fork, ein sympathisches kleines Café, wo mein Tag begann, war rege besucht von Studenten, die zehn Prozent Rabatt erhielten für ihren morgendlichen, frisch zubereiteten Take away-Porridge, der klebrig vom Schöpflöffel in den Becher tropfte, für das Birchermüesli oder für das feine Joghurt nature mit etwas Crunchy und frischen Früchten.

Proppenvoll war es auch im Wong Kei an der Wardourstreet in Chinatown, einem Lokal, das mir Pius empfohlen hat, wo die Wong Tong, die Nudelsuppe, für bescheidene 4 Pfund zu kriegen ist. Laut Pius die beste, die es gibt, meine entsprechend hohen Erwartungen hat sie nicht erfüllt.

Beinahe unbezahlbar geworden ist bekanntlich das Wohnen in London, so gesehen hatte ich Glück, mein verhältnismässig günstiges Studio in den Cartwright Gardens war winzig, aber angenehm und sauber, und vor allem ideal gelegen. Mitten in Bloomsbury, ruhig, je rund 500 Meter von den U-Bahnstationen Kings Cross, Euston Square und Russel Square entfernt. In der nahen Umgebung gibt es alles für den täglichen Bedarf, von der kleinen Bäckerei mit frischen Baguettes bis zum 24 Stunden geöffneten Laden.

*

Das Ziel meiner Reise war die David Hockney-Ausstellung in der Royal Academy. Ich wusste, der Andrang würde gross sein, auch, dass die Besucher nur in beschränkter Anzahl eingelassen würden, damit vor den Bildern kein Gedränge entstünde. Angesichts dieses voraussehbaren Vorteils waren die rund anderthalb Stunden trotz Kälte gut zu ertragen in der sich immer dichter schlängelnden Reihe, in der ich ganz im bildlichen Wortsinn Schlange stand und ausreichend Zeit hatte, den mitgebrachten Reiseführer zu studieren, was mich sonst immer etwas langweilt.

Die Bilder Hockneys waren von einer farblichen Intensität, wie ich sie selten erlebt habe. Hockney stilisiert die Natur so gekonnt, dass sie realistisch erscheint, obwohl die Baumstämme nicht einfach braun, sondern rot, blau oder orange sind. Ein wahres Fest für die Sinne. Auch perspektivisch. Man steht mitten in diesen grossartigen, weiten Landschaften und wundert sich, warum es einem erst jetzt auffällt, dass der schneebedeckte Boden auch violett und der Frühlingsacker knallrot sein kann. Mein Schwager fiel mir ein, der mich auf unserer Terrasse einmal gefragt hatte, was für eine Farbe meiner Meinung nach die Verbundsteine hätten. Grau, sagte ich und wunderte mich über die Frage. Schau genauer hin, sagte er, dann kannst du darin ganz viele Farben entdecken. Er hatte Recht. Nicht nur, was das Grau der Verbundsteine betrifft. Man muss bewusst hinschauen, um die Dinge zu erkennen. Es war eines der Schlüsselerlebnisse meines Lebens.

*

Eigentlich hätte ich vorgehabt, mindestens einen der schönen Parks zu geniessen und dann im Hydepark die Serpentine-Gallery zu besuchen, aber der strömende  Regen durchkreuzte meine Pläne, also trieb ich mich rum, vorbei an zahlreichen Baustellen, mit denen sich London für Olympia rüstet, unter anderem am Leicester Square, der vollkommen neu gestaltet wird.

Obwohl es noch immer wie aus Kübeln goss, setzte ich meinen Streifzug fort, ging planlos weiter, blieb ab und zu stehen vor einer Auslage oder hielt Ausschau nach einem Kino oder Theater, wo ich den Abend hätte verbringen können. Ganz spontan kaufte ich schliesslich ein Ticket für das Musical Les Misérables, mehr aus praktischen Gründen denn aus Interesse, das schon leicht schmuddelige Theater befand sich bloss ein paar Schritte vom Wong Kei entfernt, wo ich kurz vorher meine Nudelsuppe gegessen hatte.

Victor Hugos epochales Werk als eingängiges Musical. Aber vielleicht erreicht man die Menschen heute tatsächlich besser mit einem Film oder einem Musical. Die Leute lesen immer weniger, Literatur verliert an Bedeutung, sie wird ersetzt durch Bild und Ton. Mein hochbegabter Neffe liest kaum Bücher, viele meiner ehemaligen Berufskollegen lasen keine Bücher. Ich verstehe es nicht. Mir hat das Lesen meinen Horizont erweitert, es hat meinen Blick geöffnet, mich vieles gelehrt. Ein Leben lang. Ohne Bücher wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin.

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London gehört nicht zu den Städten, in denen ich leben möchte. Aber aus der schwarzen, Furcht einflössenden Stadt meiner Kindheit ist eine lebendige, multikulturelle Metropole mit einem schier endlosen Angebot geworden. Beeindruckend, aber auch anstrengend. Der Lärmpegel ist permanent hoch, man ist dauernd in der Menschenmenge, alles ist im Fluss, es gibt keinen Stillstand, keine Pausen. So war ich denn ganz froh, wieder im bedächtigen, vergleichsweise fast menschenleeren Zürich anzukommen, auch wenn mir die Schweizer Biederkeit dann und wann mindestens so auf die Nerven geht wie in London die allzu «crowded» Tube.

 

Prag, Mai 2009

Um zu wissen wo ich bin, müsste ich die Strasse überqueren, mir die Namen auf den Tafeln mühsam Buchstabe um Buchstabe abschreiben und danach versuchen, sie auf der Karte zu lokalisieren, die ich ebenfalls nicht lesen kann. Ich will ins Kampa-Museum, auf meinem Weg dahin zieht es mich in ein kleines Café, lauschig gelegen neben einer kleinen Brücke über den Seitenarm der Moldau, wo ich mir die Orientierungspunkte auf der Karte übersetzen lasse. Es ist einfach hier drin, nüchtern und doch gemütlich, wenige Holztische und Wienerstühle, ganz nach meinem Geschmack.

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Wir, das heisst, Robert und sein Team der Internationalen Festtage Bohuslav Martinů aus Basel, sind als Gäste der Stadt Prag zu den Feierlichkeiten eingeladen, die im Rahmen des 50. Todestages des tschechischen Komponisten stattfinden. Heute Morgen waren wir in der Ausstellung über Martinů im tschechischen Museum der Musik. Eine Dokumentation entlang der Stationen von Martinůs Leben, ergänzt mit Fotos, Text- und Tonzitaten. Die Ausstellung und die kleine Würdigung haben mir gefallen. Fast noch beeindruckter war ich allerdings vom Atrium des Museums mit seinen elegant geschwungenen Geländern, den Lichteffekten und dem Treppenbau im Hintergrund, der mich ein bisschen an Eschers Illusionen erinnert.

 

Robert verbindet nicht nur seine Herkunft mit dem tschechischen Komponisten, sondern auch die Liebe zu dessen Musik. Als Initiant der Martinů-Festtage hat er mitgeholfen, den Komponisten aus dem Vergessen zu holen und von international bekannten Interpreten spielen zu lassen. Die Inspiration dazu hatte er während eines Besuchs am Grab des Komponisten, der die letzten Jahre seines Lebens bei Paul Sacher in Basel verbracht hatte und dort begraben lag, bis seine Überreste 1979 nach Tschechien überführt wurden.

 

Tschechien: Der Name erinnert mich unweigerlich an die Episode anfangs der Neunzigerjahre, die sich in mein Gedächtnis eingegraben hat, weil sie so peinlich war, als der damalige tschechische Premierminister Václav Klaus, nach der Auflösung der Tschechoslowakischen Republik in die beiden souveränen Staaten Tschechien und Slowakei, in der Schweiz weilte und – warum auch immer, das weiss ich nicht mehr – im Hotel Mövenpick in Regensdorf eine Pressekonferenz abhielt. Ich war nur dort, weil Regensdorf im Einzugsgebiet unserer Zeitung lag, die Anwesenheit eines so hohen Tiers durfte natürlich nicht fehlen im Blatt, wenn auch bloss aus lokaler Sicht. Im Zusammenhang mit einer Frage rutschte mir das Wort Tschechoslowakei heraus, worauf Klaus mich wütend abkanzelte: «Nehmen Sie diesen Namen niiieee mehr in den Mund!!»

 

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Nachmittags, im Café Slavia

Im Kampa-Museum habe ich mich nur kurz aufgehalten, danach hatte ich Lust, der Moldau entlang zu bummeln und einfach nur das Gefühl zu geniessen, wieder hier zu sein.

In Prag bin ich zum dritten Mal. Unvergesslich gespeichert sind die Bilder, als ich 1970 zum ersten Mal mit meiner Freundin Irene hier war, nachdem die Truppen des Warschauer Paktes unter sowjetischer Führung den Prager Frühling zerschlagen und Prag und seine Bewohner in einer Art Schwermut zurückgelassen haben. Es war meistens kalt und düster, es muss Januar oder Februar gewesen sein, sicher irgendwann im Winter. Wir wohnten bei einem Ehepaar, dessen Tochter noch vor dem Einmarsch in die Schweiz gereist und danach nicht mehr zurückgekehrt war. Irene hatte sie in Bern kennengelernt, sie vermittelte uns die Adresse ihrer Eltern und gab uns Medikamente für sie mit. Wir übernachteten im Schlafzimmer der kleinen Zweizimmerwohnung, während die Eltern im Wohnzimmer schliefen, unser heftiger Protest hielt sie nicht davon ab, darauf zu bestehen. Sie verwöhnten uns, stellten uns das Frühstück auf den Tisch, einmal luden sie uns am Abend zu Zwetschgenknödel ein. Sie sprachen Tschechisch und Deutsch, erzählten uns, wie sie alles miterlebt haben, wie Aufbruch und Widerstand in Angst umgekippt sind, und dass man heute noch mehr aufpassen müsse, wo man was sage. Wir unterhielten uns über den Reformkurs unter Dubček und Svoboda, deren Namen wir zu Hause beim Demonstrieren skandiert hatten und über die wir mit den ideologischen Hardlinern unter uns gestritten haben.

Die Stadt war fast leer, wir hatten sie sozusagen ganz für uns. Stundenlang sind wir gelaufen, haben alles abgeklappert, was wir uns vorgenommen hatten, den Hradschin mit der Burg und dem Veitsdom, die Kleine Seite, das Strahov-Kloster, den Altstätter Ring, den Wenzelsplatz, den jüdischen Friedhof. Das meiste sahen wir nur von aussen. Viele der Fassaden waren zugebrettert, auch das Rathaus und die Uhr. Vor dem Einmarsch hatte man damit begonnen, die Stadt zu sanieren, jetzt, über ein Jahr danach, stand noch immer alles still.

Abends hockten wir in der Beiz, im U Tří Pštrosů, dessen Name uns zum Lachen brachte und uns an Emils Kreuzworträtsel-Nummer erinnerte, wir ergötzten uns daran, einander Prgl! und Octrn! zuzurufen. Im Lokal mit den mittelalterlichen Kreuzbögen, das ich später nicht mehr gefunden habe, diskutierten wir mit Studenten, die literweise Bier tranken und immer aufpassten, dass niemand zuhört, wenn sie uns vom Prager Frühling erzählten. Manchmal zeigten sie auf jemanden und sagten, das könnte ein Spitzel sein. Vielleicht hatten sie Recht oder es war die Paranoia nach den traumatischen Ereignissen, vielleicht wollten sie uns aber auch nur ein bisschen auf die Rolle schieben.

Die Tschechin, eine Architektin, hatte Irene empfohlen, ein altes Heilbad in Mähren zu besuchen, dessen Name ich längst vergessen habe. Wir fragten im Tourismusbüro danach, die Dame riet uns davon ab, da sei gar nichts zu sehen, sie empfehle uns dagegen das Schloss Frauenberg in Südböhmen – das einmal der Familie Schwarzenberg gehört hat und jetzt Staatseigentum ist, wie wir dann herausgefunden haben, deshalb wohl die Empfehlung. Als wir unschlüssig waren, buchte sie uns kurzerhand zwei Plätze, und noch bevor wir uns richtig versahen, sassen wir im Bus, der die wenigen Touristen dorthin brachte.

Das Schloss mit dem zungenbrecherischen Namen Hluboká nad Vltavou war eine neugotisch-neoromantisch verkitschte Scheusslichkeit mit – natürlich – einigen kulturhistorisch wertvollen Einzelheiten, berühmt ist die Kassettendecke, die uns fast erschlagen hat, und im Jagdzimmer voller Geweihe – an den Wänden, als Lampen von der Decke, als Stuhl- und Tischbeine – kriegten wir einen Lachkrampf. Die Reise hat sich dennoch gelohnt, an diesem Tag schien die Sonne und die Landschaft Böhmens ist wirklich sehr schön.

Am nächsten Tag fuhren wir entgegen dem Ratschlag der Dame im Tourismusbüro doch noch ins alte Heilbad in Mähren, unsere Gastgeber wussten, wie man dorthin gelangt. Es war eine nostalgische Reise in die Vergangenheit, im stotternden Zug, gezogen von einer schwarzen Rauch ausstossenden Dampflokomotive, unterwegs hielten wir in einem Dorf oder Städtchen, jedenfalls mit einem grossen, quadratischen Platz, er war leer, es hingen Fahnen der Partei mit Hammer und Sichel an den Häusern und wir fragten uns, ob die hier wohl noch immer oder schon wieder hingen.

Der Schaffner sagte uns, wann wir aussteigen müssten, an einer verlassenen Bahnstation, einer alten Hütte mitten im hohen Gras. Ein schmaler Trampelpfad führte über eine Böschung in den Wald und dort auf einen etwas breiteren Weg. Wir waren schon unsicher, ob wir überhaupt am richtigen Ort gelandet waren und ob wir hier jemals wieder hinausfinden würden, als plötzlich barocke Figuren auftauchten, die mal den Weg gesäumt hatten, jetzt waren sie versteckt, ganz mit Moos überwachsen, man musste nach ihnen Ausschau halten, um sie zu sehen. Sie waren verzaubernd schön, früher beachtet, jetzt nur noch einsam und verlassen, sie taten uns fast ein bisschen leid.

Zum Tor des ehemaligen Heilbads führte der Weg aus dem Wald hinaus über ein stoppliges Feld, ich erinnere mich nur noch undeutlich an einen grossen Gebäudekomplex mit einer Mauer darum, durch deren Tor wir hineingingen, der Boden im Hof hinter der Mauer war grasüberwachen, einen Brunnen sehe ich noch und einen kleinen Kräutergarten mit einer Frau, die dort etwas hackte oder pflückte. Wir wollten sie fragen, was aus dem Heilbad geworden ist, an das hier nichts mehr erinnerte, aber sie verstand nur Tschechisch und schüttelte den Kopf.

Die Frau im Tourismusbüro hatte Recht, wenn sie sagte, dass dort nichts mehr sei, andererseits hat uns diese Reise in die Vergangenheit sehr viel tiefer berührt als die Zurschaustellung der Reichtümer im ehemaligen Schloss der Schwarzenbergs und deren fragwürdigem Geschmack. Vielleicht auch deshalb, weil es ein Abenteuer war, das uns ein bisschen ängstigte, als wir eine kleine Ewigkeit auf einen Zug warteten und nicht wussten, ob überhaupt jemals wieder einer anhalten würde.

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Das zweite Mal in Prag war ich mit meinem Mann Res, noch vor der Wende. Hier im Slavia, nicht im Café, sondern im dazu gehörenden noblen Restaurant, haben wir einmal gegessen, der Concierge im Hotel hatte uns die Adresse empfohlen und gesagt, es sei das beste Restaurant in Prag, doch das Essen war für unsere doch ziemlich verwöhnten Gaumen höchstens mittelmässig, was wir dem sozialistischen Osten zuschrieben.

Die Stadt, die ich mit Irene kennengelernt hatte, war beim zweiten Besuch nicht mehr wiederzuerkennen, richtig geschockt war ich auf der Karlsbrücke, auf der Irene und ich noch Freudensprünge gemacht hatten, so schön war es da, wir beide ganz allein, jetzt mussten Res und ich uns im Menschenstrom millimeterweise vorwärtstreiben lassen, an den Händlern vorbei, die ihre Billigware anboten, Entkommen unmöglich. Ich war enttäuscht. Die zweite Invasion, die der Touristen, hatte die geheimnisvolle Stadt mit der unvergleichlichen Silhouette in eine Kulisse verwandelt, das wahre Leben fand anderswo statt. In einem Café, das wir etwas frustriert aufsuchten, weil im Museum, wo wir hinwollten, schon sehr früh zu viele Menschen Schlange standen, bot uns ein Taxifahrer eine Stadtführung an, zu einem vorher ausgehandelten Preis. Es war ein guter Deal, der Taxifahrer war ein Student, der viel wusste, über die Stadt, ihre Geschichte, ihre Kultur, er zeigte uns das Wichtigste, brachte uns aber auch an unbekanntere Orte. Ich kann mich noch an den Augenblick erinnern, hoch über der Stadt, als wir vorne an der Mauer standen und auf die Moldau blickten und ich wieder die Musik im Ohr hatte, die ich nie mehr vergessen habe, seit ich vor vielen Jahren Ferenc Fricsay einmal im Fernsehen gesehen hatte, wie er Smetanas Moldau vorstellte und dabei das Publikum aufforderte genau hinzuhören, was die Musik erzählt, wie das Wasser aus der Quelle perlt, wie aus dem feinen Rinnsal ein dahinziehender Fluss wird, vorbei an Landschaften, Hochzeiten und Unwettern, bis er schliesslich als breiter Strom im Meer verschwindet.

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Nach unserer Ankunft gestern Mittag wurden wir in einem Kleinbus abgeholt und zum Hotel an einem Seitengässchen in der Nähe des Altstätterrings gebracht. Unterwegs sind mir die vielen Baustellen aufgefallen, Prag ist wieder mal im Aufbruch, diesmal sind es keine politischen, sondern wirtschaftliche Ziele. Ein Rundgang mit Robert als Reiseleiter zeigte eine pulsierende Stadt, schön, einzigartig, und doch hat sie für mich ihre geheimnisvoll verzaubernde Atmosphäre des ersten Mals endgültig verloren. Wie die erste Liebe, die man wiedersieht und merkt, dass die Erinnerung nicht mehr der Realität entspricht.

Die Vertreterin der Stadt erklärte uns das Programm, tagsüber sind wir frei, bis auf den heutigen Morgen im Museum, abends jeweils eingeladen, gestern in der Laterna Magika, natürlich auf den besten Plätzen. Ich hatte etwas ganz Anderes erwartet, kleiner, poetischer, trotzdem war es eine interessante Erfahrung, mit überraschenden Effekten und einer perfekten Choreografie

3. Tag, nachmittags, im Café Louvre

Das Jugendstil-Café im Zuckerbäckerstil, in den Farben écru und altrosa, mit grossen Bogenfenstern auf die Strasse und Spiegeln in den Bogennischen der gegenüberliegenden Wand, gefällt mir, hier fühle ich mich wohl. Es ist früher Nachmittag und nicht voll besetzt, man hört praktisch nur Tschechisch, ein voll behangener, alter Zeitungsständer erinnert an die traditionelle Kaffeehauskultur, wie sie auch in Wien anzutreffen ist, selbst die Kuchen in der Auslage sind zum Teil dieselben, kulinarisch die gefährlichsten Verführer hier in Prag.

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Nach dem Slavia schlenderte ich zum Pulverturm, wo ich mit den andern verabredet war, und von wo uns Robert ins Kavarna Obecni dum führte, mit seinen riesigen Leuchtern, den Marmorwänden und dem Messingdekor das wohl eindrücklichste Jugendstil-Kaffeehaus Prags, weder in Wien noch in Paris gibt es etwas Vergleichbares, anderswo sowieso nicht. Auf dem Rückweg ins Hotel zog es mich in einen kleinen Laden mit ganz zauberhaften Marionettenfiguren. Kleists Erzählung über das Marionettentheater fiel mir ein, sie gehörte zur Pflichtlektüre in der Buchhändlerschule.

Abends waren wir ins Nationaltheater eingeladen. Die Gebrüder Bubeníček tanzten, wovon der eine offenbar zu den weltbesten Ballett-Tänzern gehört, wie Robert wusste. Bisher hatte ich mich nie besonders für Ballett interessiert, in meiner Vorstellung verband ich es mit Tütüs und Spitzentanz, aber die Darbietung der Bubeníčeks hat mich eines Besseren belehrt und mich dermassen begeistert, dass ich mir vornahm, im Opernhaus in Zürich unbedingt auch mal eine Aufführung zu besuchen. (Seither war ich schon mehrere Male in Ballettaufführungen und bin voller Hochachtung für die Tänzerinnen und Tänzer. Das moderne Ballett ist hochspannend und übertrifft jede andere körperliche Höchstleistung, mit dem Unterschied, dass Tanz schlecht bezahlt ist, während für andere, im Vergleich wesentlich weniger spektakuläre sportliche Höchstleistungen Millionenbeträge bezahlt werden.)

Den Schlummertrunk genehmigten wir uns ohne offizielle Begleitung im tiefen Keller der Bierhalle U Vejvodu. Man muss sie gesehen haben, diese Bierhalle, sie ist riesig, lärmig, ein Unikat. Es wurde ein feuchtfröhlicher Abend, sogar ich als erklärte Nichtbiertrinkerin liess mich zum Pils überreden.

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Der heutige Tag begann mit einer Besichtigung des jüdischen Viertels. Ich bin mit den anderen mitgegangen, weil ich mich nicht die ganze Zeit absondern kann, es wäre unhöflich. Im original erhaltenen Café, worin Kafka heute noch omnipräsent ist mit Bildern und Zitaten, sassen wir als einzige Gäste, ein seltsamer Ort, düster und etwas abweisend.

Die schlichte Atmosphäre in der Altneu-Synagoge beeindruckte mich, vielleicht weil ich mich mit dem jüdischen Volk verbunden fühle seit meiner Kindheit, wenn meine Mutter von ihrer jüdischen Freundin und deren Familie erzählte, im Geschäft des Vaters konnte sie später ihre KV-Lehre absolvieren. Es waren keine orthodoxen Juden, aber manche Rituale wurden gepflegt, etwa das Brot brechen am Tisch, was meine Mutter immer sehr beeindruckt und wovon sie immer mit grosser Achtung gesprochen hat. So habe ich mich schon früh mit dem Schicksal der Juden im Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Ich konnte nie fassen – und kann es bis heute nicht –, was ihnen angetan wurde. Die Vorstellung, dass Menschen andere Menschen zusammentreiben und industriell vergasen, ist für mich die allerschlimmste der vielen Grausamkeiten, zu denen die Menschen offenbar fähig sind. Res war ebenfalls an zeitgenössischer Geschichte interessiert und sammelte alle Dokumentarfilme, die es über den Zweiten Weltkrieg gab. Ich weiss noch, wie enttäuscht ich war von «Schindler’s List», weil der Film auf mich eher beschönigend wirkte und nicht annähernd das Grauen zu zeigen vermochte, das ich in den schwarz-weissen Dokumentarfilmen gesehen hatte.

Extrem hoch sind die Eintrittspreise, was eine Kollegin zu der Bemerkung veranlasste, «c'est juif!». Ihre Bemerkung ärgerte mich. Gerne hätte ich sie daran erinnert, welche Folgen solch unbedachte Äusserungen und gedankenlose Pauschalisierungen haben können, überhaupt, was undifferenzierte und unpräzise Sprache anrichten kann, wenn sie auf Dummheit und Unwissenheit trifft. Aber ich wollte keinen Streit. Statt womöglich noch die Stimmung zu verderben, weil ich meinen Mund nicht halten kann, verabschiedete ich mich und ging wieder meinen eigenen Weg.

Am Wenzelsplatz traf ich auf das alltägliche, geschäftige Prag. Das tat gut nach so viel Museumsatmosphäre inklusiv Touristenhorden im engen, ältesten Teil der Stadt. Ich mochte es, mich ganz normal zu bewegen, am Bancomaten Geld zu besorgen, im Haushalt- und Lebensmittelladen meinen Apfel zu kaufen.

In diesem Moment sehe ich Robert und die anderen an einem Tisch weiter vorne, mit dabei seine Tante, die in Prag lebt. Sie hatten offenbar die gleiche Idee mit dem Louvre. Ich werde mich kurz zu ihnen gesellen, seine Tante begrüssen, die ich schon an Konzerten getroffen habe, und dann weiter gehen. Abends sind wir von der Stadt zum Essen eingeladen und anschliessend werden wir ein Marionettentheater besuchen, nicht mehr auf Einladung, sondern auf eigene Kosten, wir entschieden uns dafür, obwohl Robert abgeraten hat.

Wieder zu Hause, ein paar Monate später

Das Marionettentheater hätten wir uns sparen können. Wir waren nicht im Marionetten-Nationaltheater, wo die Vorstellung womöglich besser gewesen wäre, sondern in einem kleinen, eher etwas schmuddeligen Theater, in das sich nur Touristen verirren. Nichts von Kleists beschriebener Anmut. Eine Enttäuschung. Aber Robert hatte uns ja gewarnt.

Unseren letzten Tag kann ich nur noch anhand der Fotos rekapitulieren. Eines der Bilder zeigt uns in der Bar des beeindruckend schönen Jugendstilhotels Pariz, das sich keines von uns leisten könnte – ausser Dorette natürlich. Auf einem anderen Bild stehen wir in der wartenden Schlange vor dem Veitsdom. Ein Bild zeigt Robert, wie er einer Gruppe von Musikern, die auf dem grossen Platz vor der Burg spielen, eine Münze in den Hut legt. Gegessen haben wir im Hof eines alten Gebäudes, von dem ich nicht mehr weiss, wo genau das war, auf dem Rückweg sind wir am Strahov-Kloster vorbeigekommen und ich habe meinen voraussichtlich letzten Blick auf die Stadt geworfen.