Dass ein
einzelnes Land die Herausforderungen der Zukunft nicht mehr allein lösen kann,
ist eine unbestrittene Tatsache. Und dass im heutigen geopolitischen Umfeld mit
den Grossmächten China, Russland und USA ein starkes Europa immer wichtiger
wird, scheint mir ebenfalls logisch, auch wenn gewisse politische Parteien und
Gruppierungen aus machttaktischen oder weniger nachvollziehbaren oder auch
gänzlich verabscheuungswürdigen Gründen den Nationalismus als Allerheilmittel
gegen alle Unbill dieser Welt aus der Mottenkiste gezogen haben.
Die Schweiz liegt als kleines Land mitten in Europa. Europa ist nicht nur der
wichtigste Handelspartner der Schweiz, wir sind auch durch zahlreiche Verträge
eng mit Europa verflochten und haben unsere Gesetze entsprechend angepasst. Ohne
Europa ist die Schweiz gar nicht mehr denkbar. Sie war es nie. Ein Beitritt
wäre also durchaus denkbar.
Der bilaterale
Weg hat sich bisher als explizit schweizerische Lösung bewährt. Eine
überwältigende Mehrheit der Schweizer Bevölkerung möchte, dass dies auch so
bleibt und ist – vehement – gegen einen Beitritt. Will, soll, kann man das überhaupt
umkehren? Gewisse politische Parteien und Gruppieren rufen vermehrt wieder dazu
auf. Ich kann die Argumentationen zwar nachvollziehen, allerdings ohne dabei
gleich euphorisch zu werden. Vorher stellen sich mir nämlich viele – nach wie
vor unbeantwortete – Fragen:
Die ganz grosse
Frage ist und bleibt: Kann Europa sich reformieren? Kann Europa demokratischer
werden? Wenn ja, kann die EU dies glaubwürdig genug umsetzen, so, dass die
Bevölkerungen wieder mehr Vertrauen in diese Institution fassen?
Es steht ausser Zweifel, dass die meisten, wenn nicht alle Länder von der
Mitgliedschaft in der EU profitieren. Auch Deutschland, dessen Bevölkerung sich
immer darüber beklagt, sie müsste am meisten dafür bezahlen. In Tat und
Wahrheit profitiert auch Deutschland in hohem Masse. Fakt ist aber auch: Es
gibt nach wie vor das Gefälle Nord-Süd, es gibt diejenigen die stärker zur
Kasse gebeten werden, und es gibt die gebeutelten. Dies zu beschönigen, wäre
falsch.
Man kann das
Projekt Europa aus altruistischer Sicht beurteilen, welche die Solidarität in
den Mittelpunkt stellt, eine Solidarität, die dafür sorgt, dass die reicheren
Länder den ärmeren helfen und die Stärkeren den Schwächeren. Europa als demokratisch
organisierte Wertegesellschaft. Gerade diejenigen unter den PolitikerInnen, die
sich zur christlichen Kultur bekennen, müssten diese Perspektive eigentlich vehement
verteidigen.
Man kann das
Projekt EU aber genauso gut aus einer vollkommen egoistischen Sicht betrachten.
Europa als erfolgreiches Wirtschaftsprojekt. Wenn auch mit Rückschlägen und mit
wiederkehrenden und langwierigen Problemen, deren Lösung manchmal unmöglich
scheint, weil die Multilateralität ein komplexes System ist, das auszutarieren
oft ein Ding der Unmöglichkeit scheint. Trotzdem: Alles in allem haben bisher
alle profitiert.
Nur wer
vollkommen ideologisch verblendet oder aber naiv und dumm genug ist, glaubt, ein
nationalstaatlich organisiertes Europa sei die bessere, zukunftstauglichere
Lösung. Fakt ist: Ohne die europäische Zusammenarbeit wäre auch bei uns in der
Schweiz vieles nicht möglich gewesen, einen grossen Teil unseres Wohlstandes verdanken
wir unter anderem der engen Zusammenarbeit mit der EU. Diese wird künftig noch
wichtiger werden, wenn es darum geht, die grossen Herausforderungen der Zukunft
zu meistern.
Welches ist
also der bessere Weg für die Schweiz? Beitritt oder Beibehalten des bilateralen
Wegs mit seinen ständigen Anpassungen samt den dafür notwenigen, zähflüssigen,
schwierigen, langwierigen und nervenaufreibenden bilateralen Verhandlungen?
Der entscheidende
Punkt dabei ist für mich die Frage: Bleibt die EU weiterhin das Erfolgsprojekt,
das sie zweifellos war und ist, oder führen ihre internen Differenzen
langfristig zu ihrem Zusammenbruch?
Fragen dazu:
Wird
Deutschland, dessen wirtschaftspolitischen Vorstellungen die Finanzpolitik
Europas prägen, seine Dominanz zugunsten einer Solidarisierung in Europa
aufgeben?
Macron will
eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik, er will sie «europäisieren»,
resp. die Kompetenzen aus den Ländern in die europäischen Institutionen
verlagern. Ist das realistisch?
Ausserdem: Kann
die EU verhindern, dass Länder wie Ungarn die gemeinsame Politik sabotieren?
Das politische System Europas ist zwar ähnlich, wie in vielen ihrer demokratisch
organisierten Mitgliedsländern. Aber in einigen Punkten eben doch ganz anders.
So frage ich mich beispielsweise, wie die Macht in Europa tatsächlich
funktioniert. Wer ist in der Entscheidungskette am einflussreichsten: die
europäische Kommission und ihr Präsident, der europäische Rat, resp. die
Regierungschefs, die den Präsidenten des europäischen Rats stellen, der
Ministerrat, resp. die nationalen Regierungen, die ihre mandatierten Minister
in den Ministerrat entsenden, das Europaparlament? Oder sind es am Ende gar die
Lobbyisten im Hintergrund, wie das Robert Menasse in seinem Buch «Die
Hauptstadt» beschrieben hat?
In den vergangenen Jahren hat der Einfluss des Europaparlaments zwar
zugenommen, aber von einer unabhängigen Legislative zu sprechen, wäre wohl
stark übertrieben. Für mich hat es etwas Sinnbildliches, dass das Parlament in
Strassburg tagt, weit weg von Brüssel… Aber bereits bei dieser Frage kommen
sich Frankreich und Deutschland in die Quere. Wie sehr sich die beiden Länder,
die eigentlich zusammengehen müssten, immer stärker voneinander entfernen,
zeigen auch die Differenzen, die sich abzeichnen, wenn es um die dringend
notwendigen Reformen geht, die Macron in seinem Papier aufgelistet hat. Gibt es
die Idee Europa überhaupt noch? Oder ist Europa bloss noch ein Wirtschaftsunion
ohne politische Vision?
Wie muss Europa künftig organisiert sein, damit es nicht wieder
auseinanderfällt? Damit die Machtteilung demokratischer wird? Auch im Sinne der
Bevölkerungen kleiner Länder, die - was die Gesetzgebung betrifft - kaum
Einfluss nehmen können, denn die grossen Staaten sind auch mit grossen
Mehrheiten im Parlament vertreten.
Es sind viele –
berechtigte – Fragen, die auftauchen. Bei aller Sympathie für Europa.
Ich teile die Meinung, die auch Gret Haller vertritt, nämlich, dass Europa von
der Schweiz lernen könnte. Aber ich stelle in allen Gesprächen –auch hier in
der Schweiz – immer wieder fest, dass die ganz grosse Mehrheit im restlichen
Europa dieses System entweder nicht versteht oder nicht verstehen will. Dass
die direkte Demokratie ein komplexes Regelwerk ist, wissen die wenigsten, und
wie gründlich sie missverstanden werden kann, zeigt der Brexit, wo aus einer
Volksbefragung ein verbindliches Prebiszit gemacht wurde, nur weil ehrgeizige
PolitikerInnen das so wollten. Und dies, obwohl nicht einmal diese Politiker
wussten, worauf sie sich damit einlassen. Und jetzt sind sie unfähig,
Kompromisse zu schliessen. Das zeugt nicht von einem hochentwickelten
demokratischen Verständnis.
Auch grundsätzliche Fragen tauchen im Zusammenhang mit Europa auf. Wie kann man
die Unterscheidung zwischen Nation und Nationalität gegenüber Nationalismus
deutlicher machen, ohne gleich missverstanden zu werden? Wie kann man Identität
definieren, ohne dass daraus eine religiöse oder ethnische «Blutsfrage» wird?
Wie kann man das von den Populisten so verpönte Wort Multikulturalität wieder
in ein positives Bild verwandeln, als eine der grössten Bereicherungen der
Menschheit? Wie muss man in einer zunehmend individualisierten Welt
argumentieren, damit das Verständnis für Gemeinsamkeit und Solidarität wieder
an Achtung gewinnt? Und schliesslich: Wie lernt man Freiheit und Verantwortung
(mit Betonung auf «und»), die es für das Funktionieren einer Demokratie zwingend
braucht?
Und schliesslich: Welche Zukunftsvision soll man entwerfen unter dem Aspekt des
Klimawandels, der Fortentwicklung der Digitalisierung und der künstlichen
Intelligenz und des damit sich komplett verändernden Arbeitsmarktes, resp. des
dafür erforderlichen Bildungssystems? Wie müssen die verantwortlichen
Regierungen Europa auf diese längst absehbaren, zukunftsrelevanten
Herausforderungen reagieren? Welches politische System braucht es, um sowohl
die Anforderungen der Wirtschaft als auch die sozialen Bedürfnisse zu
befriedigen? Braucht es neue Formen, um sowohl die Finanzierung als auch die Verteilung
zu organisieren? Stichwort bedingungsloses Grundeinkommen? Braucht es neue,
noch gar nicht existierende Systeme? Ist das überhaupt möglich, solange
parteipolitische und/oder einzelne Landesinteressen stärker im Vordergrund
stehen als das Wohl des Gesamten?
Verteidiger Europas sagen, dass es kaum Verlierer gibt in Europa. Das scheint
mir doch etwas schöngefärbt. Es bringt die Sache weiter, wenn man realistisch
bleibt. Das langfristige Ziel eines Beitritts scheint mir sinnvoll, aber nur,
wenn man bei dabei die Glaubwürdigkeit gegenüber der Bevölkerung nicht
verliert.
Mai 2019