Donnerstag, 13. Februar 2014

Die EU ist auch gefordert

Einem Bekannten von mir wurde aus Wien zur Abstimung gratuliert. Der Tonfall: "Endlich traut sich jemand, gegen die EU aufzumucken. Die EU entwickelt sich immer mehr zu einer Konzerndiktatur, ja wirklich, einer Diktatur."
Mal abgesehen davon, dasss der Begriff "Diktatur" hier per definitionem nicht zutrifft, kann ich verstehen, dass es viele Menschen in der EU gibt, die bitter enttäuscht sind. Im Norden sind sie wütend, weil sie für den Süden bezahlen müssen, im Süden, weil sie durch die Sparmassnahmen leiden, die ihnen der Norden aufzwingt.
Dabei vergessen sie allerdings, dass die Probleme in den meisten Fällen hausgemacht sind: Korrupte Regierungen, mangelnde Reformbereitschaft, ganze Staaten haben über ihre Verhältnisse gelebt. Wenn man hier der EU etwas vorwerfen kann, dann die Tatsache, dass sie zu lange tatenlos zugesehen hat.
Es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass die EU schwerfällig und bürokratisch geworden ist. Und mit der Ausdehnung auf neue Staaten wird sie es immer mehr. Das heisst, auch die EU muss sich reformieren, muss neue Wege suchen, muss demokratischer werden, wenn sie überleben will.
Ihr Scheitern zu wünschen, was viele tun, ist meiner Ansicht nach jedoch fahrlässig.
Wir vergessen manchmal, warum die EU entstanden ist: Nicht zuletzt als Antwort auf die fatalen Folgen des Nationalismus, der zu zwei Weltkriegen geführt hat. In der Folge ist die ursprüngliche Idee jedoch immer mehr verwässert worden, bis die EU von den Generationen, denen das Kriegserlebnis fehlt, nur noch als Wirtschaftsraum gesehen wurde, von dem man profitieren kann. Als Topf, aus dem man sich bedienen kann.  Die Schweiz macht da keine Ausnahme.
Der Tunnelblick auf die wirtschaftlichen Vorteile hat aber viel mehr mit dem Neoliberalismus und der Globalisierung zu tun, die einen Wertewandel erzeugt haben, dessen Auswirkungen sich als gravierender als angenommen erweisen könnten. Der Neoliberalismus, die Globalisierung und der damit verbundene Wertewandel sind die eigentlichen Ursachen für die heutige Situation, mit der alle Staaten weltweit konfrontiert sind.
Zu glauben, man könne die Globalisierung rückgängig machen, ist eine gefährliche Illusion, dazu ist sie schon zu weit fortgeschritten. Und gerade in dieser globalisierten Welt ist der gemeinsame Markt in der EU von zentraler Bedeutung. Davon bin ich überzeugt. Denn die Unternehmen wandern dorthin, wo sie die günstigsten Wettbewerbsbedingungen bekommen.
Es wundert nicht, dass jetzt vor allem rechtskonservative und rechtsnationale bis nationalistische Stimmen die Schweiz loben. Das Lob kommt von der falschen Seite. Der Rückschritt zu nationalistischen Staaten wäre eine Katastrophe, die EU ist noch immer die einzige Alternative. Ihr Scheitern würde tatsächlich die Armut beschleunigen.
Richtig ist: Alle müssen jetzt über die Bücher. Das Zeichen, das die Schweiz gesetzt hat, schreckte hoffentlich auch die Borniertesten in der EU auf, welche glauben, die Signale aus der Bevölkerung nicht ernst nehmen zu müssen. Denn die EU ist heute tatsächlich ein bürokratisches Mammutgebilde. Hauptursache: Die Staaten wollen ihre Kompetenzen nicht an eine Zentralregierung abgeben. Das ist verständlich, aber das macht den Apparat halt auch so schwerfällig. Und je mehr sich die EU auf weitere Staaten ausweitet,  je mehr Vertragswerke einzeln ratifiziert und einstimmig angenommen werden müssen, desto mehr gleicht der Prozess einem Marathonlauf, bei dem nicht verwundert, wenn ab und zu mal der Atem ausgeht.
Aber wenn ein solches Vertragswerk schliesslich steht, dann ist es verbindlich. Ist das so verwunderlich? Und ist es verwunderlich, wenn die EU verlangt, dass ein verbindlich eingegangener Vertrag auch eingehalten wird?
Das ist auch mit der Personenfreizügigkeit so. Die EU betont zu Recht, dass der freie Zugang zum Markt den freien Personenverkehr beinhaltet. Eigentlich logisch.
Tatsache ist auch: Der Ausgang der Abstimmung in der Schweiz war hausgemacht:
Statt der angekündigten 8000 kamen 80'000. Entschlossen gehandelt hat niemand. Weder der Bundesrat, noch das Parlament, wo sich die Parteien lieber gegenseitig ausbremsen, als gemeinsam nach kreativen Lösungen zu suchen. Schon hören wir wieder die gegenseitigen Schuldzuweisungen. Es ist erbärmlich. Dabei sind alle beteiligt: Die Rechte, die sich gegen flankierende Massnahmen wehrt, die Linke, die jede Verschärfung verteufelt, die Wirtschaft, die sich nur um die eigenen Interessen kümmert.
Entschieden hat schliesslich die konservative Landbevölkerung, die nicht in globalen Zusammenhängen denkt, die alte Zustände herbeiführen will, die hofft, den Lauf der Dinge aufhalten zu können. Unterstützt wurde sie von rechts bis links: von den grünen Oekofundis, den Globalisierungsgegnern, den Wirrköpfen, die das Asylwesen nicht von der PFZ unterscheiden können, von religiösen Fundis, und von ganz vielen, die der Wirtschaft und der Politik einen Denkzettel verabreichen wollten.
Sie haben damit dem Land keinen Gefallen getan. Denn wenn sich die Schweiz abschottet und isoliert, wenn sie nicht mehr profitieren kann von der EU - und das tut sie in hohem Masse-, dann wird es für sie sehr viel schwieriger, als es ohnehin schon ist, sich in einer globalisierten Welt zu behaupten.
Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Immer wenn es versucht wurde, endete es in einer Katastrophe. Sehr viel klüger ist es, sich den Herausforderungen zu stellen, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Eine Zukunft, die immer globalisierter wird, ob wir das wollen oder nicht. Mit allen Vor- und Nachteilen.
Ich weiss nicht, wie die EU reagieren wird. Sie betont, dass nun die Schweiz am Zug sei, sie betont aber auch, dass die PFZ nicht verhandelbar und eine Kontingentlösung ausgeschlossen sei. Die SVP - wie könnte es anders sein - laviert und meint, man könne ja für gut Ausgebildete den Familiennachzug erlauben. Eine Zweiklassenlösung also. Die EU schliesst eine solche zu Recht ebenfalls aus. Die Ausländer haben zu unserem Wohlstand beigetragen, ohne sie würde die Schweiz stillstehen. Sie haben auch unsere Kassen gefüllt: Zum Beispiel in die AHV, die jetzt wieder nicht mehr auf lange Zeit gesichert ist. Und, und, und…
Ich habe Nein gestimmt und bin zutiefst geschockt über das Ergebnis, auch wenn ich es habe kommen sehen. Ich schäme mich nicht für den Entscheid, denn er ist Ausdruck der direkten Demokratie, und die Beweggründe für das Nein waren längst nicht immer xenophob, wie jetzt manche Besserwisser aus dem Ausland behaupten. Dies zu glauben, ist nun wirklich zu simpel. Aber ich schäme mich immer mehr für die Mentalität der Schweizerinnen und Schweizer, die sehr gerne bereit sind, die illegalen Gelder aus dem Ausland entgegen zu nehmen, die selbstverständlich vom Zutritt zum Freien Markt und von den Ausländern im Land profitieren wollen, aber immer weniger bereit sind, die Konsequenzen dafür zu tragen. Und ich schäme mich für Christoph Blocher, der in seinem Triumph nur Worte der Häme und der Abschätzung findet für die Romandie und die andere Hälfte der Schweiz, die Nein gestimmt hat.
Die Skepsis gegenüber der EU hat nicht nur in der Schweiz, sie hat überall bedrohlich zugenommen. Sie ist meiner Meinung nach sehr ernst zu nehmen. Sie zwingt - hoffentlich - die EU, die eigene Legitimation zu überdenken und ebenfalls nach neuen kreativen Lösungen innerhalb der eigenen Reihen zu suchen.
Aber sie wird hart bleiben müssen in der Frage der PFZ, wenn sie nicht will, dass jetzt die Rechtsnationalen aller Länder Oberwasser erhalten.
Gegenüber der Schweiz ist sie deutlich am längeren Hebel. Dass sie nun die Verhandlungen für das institutionelle Abkommmen und für ein Stromabkommen ausgesetzt und die Forschungsgelder, von denen die Schweiz in hohem Masse profitiert hat, nicht mehr fliessen lässt, mag bloss eine Drohgebärde sein im Hinblick auf kommende Verhandlungen. Es kann gut sein, dass die Suppe nicht so heiss gegessen wird, wie sie gekocht wurde. Aber es kann auch sein, dass es irgendwann ein böses Erwachen gibt. Für alle.
Warten wir ab.