Sonntag, 18. Januar 2015

Wofür ich einstehe

Es gibt Momente im Leben, in denen man gezwungen ist, die eigenen Überzeugungen zu hinterfragen. Entspricht das, was ich denke, noch dem, was ich glaube? Entspricht das, was ich glaube, noch dem, was ich denke? Entspricht das, was ich denke, noch der Realität?
In meinem Leben gab es bisher drei solche entscheidende Phasen:
- Das erste Mal, als ich zuerst aus der Kirche meiner Eltern, später ganz aus der Kirche austrat. Heute bin ich nach Gefühl Agnostikerin, nach Verstand Atheistin.
- Das zweite Mal, als ich politisiert wurde und, damals noch jung und idealistisch, kommunistische Parolen skandierte. Dies im ehrlichen Glauben an eine gerechte Welt.
- Das dritte Mal, als ich nach ein paar Jahren der kommunistischen Verblendung, mein Denken erneut befreite, diesmal nicht von einer Religion – was im übrigen noch Jahre dauerte – sondern von einer Ideologie was mir sehr viel leichter fiel.
Heute bin ich eine pragmatisch denkende, linksliberale Parteilose. Was aber nicht heisst, dass ich keine Haltung habe, wie manche daraus gerne ableiten. Seit dem Attentat auf Charlie Hebdo fühle ich mich herausgefordert, wie schon lange nicht mehr, diese Haltung ernsthaft zu hinterfragen, im Speziellen meine Meinung zu Satire und zum Islam.
Wie gesagt, ich zähle mich zu den aufgeklärten Menschen und bilde mir ein, meinen eigenen Verstand zu gebrauchen, um mir meine Meinung zu bilden. Deshalb weiss ich natürlich, was Satire ist. Und auch, wenn manche der Zeichnungen von Charlie Hebdo - das ich von meinen Frankreich-Aufenthalten kenne - nicht meinem Geschmack entsprechen, so weiss ich doch: Es handelt sich um Satire. Gute Satire bringt uns zum Lachen, aber nicht zum Auslachen. Gute Satire ist ein machtvolles, aber gewaltloses Mitttel gegen menschliche Dummheit, gegen allzu menschliches Versagen, politische Lügengebäude, Scheinheiligkeit, Bigotterie, Heuchelei usw. Sie ist der Stachel im Fleisch der Mächtigen. Sie ist der Hofnarr, der uns den Spiegel vorhält. Satire ist nötig. Auch wenn ich mich dabei ab und zu getroffen fühle. 
Seit dem Attentat frage ich mich trotzdem immer wieder: Was darf Satire? Trifft meine Meinung noch zu,  sie dürfe alles? Oder war es verantwortungslos, Mohammed zu karikieren, obwohl alle wissen, dass der Islam oder besser, die islamische Kultur, dies verbietet?
Gerade in der Schweiz sind die Stimmen zahlreich, die dazu tendieren, die Schuld für das Attentat bei den Zeichnern von Charlie Hebdo zu suchen. Hätten sie nicht provoziert, wäre es nicht passiert, sagen sie. Sie führen das starke Argument ins Feld, dass Freiheit untrennbar mit Verantwortung verbunden sei, resp. dass diese Verantwortung verbiete, blasphemische Karikaturen zu publizieren, welche die Gefühle so vieler Menschen verletzen. Haben sie recht? Braucht die Satire eine Selbstzensur? Aus ethischen Gründen? Aus Vernunftsgründen? Aus pragmatischen Gründen?
Zum ersten Punkt:
Ja, sicher, die Zeichner von Charlie Hebdo machten sich angreifbar. Und gefährdeten so sich selbst und andere. Zum Beispiel, den muslimischen Mitarbeiter, den Portier, den Polizisten.
Aber was ist mit den Menschen, die sich zufällig im jüdischen Laden, in der Londoner U-Bahn, im Madrider Zug befanden, was mit den geplanten Attentaten auf belgische Polizisten, auf deutsche Bahnhöfe? Das alles hat nichts mit den Karikaturen zu tun. 
Warum schreiben wir nur "Je suis Charlie" und nicht: "Je suis Juif, je suis Muselman, je suis Policier, je suis Nigerien", und, und. Was läuft da falsch mit unserer Empörung? Warum empören wir uns nicht genauso lautstark über gewaltverherrlichende Videos? Kommerzielle und diejenigen der Djihadisten? Wo bleibt unser Engagement für Ethik beim vielen Schund, der nicht nur Muslime, sondern uns alle beleidigt, ganz besonders unseren Verstand? Warum steigen wir nicht auf die Barrikaden, um unsere Freiheit gegen die allgemeine Barbarei zu verteidigen?
Ich finde: Genau das hat Charlie Hebdo getan. Mit den Mitteln der Satire. Das heisst, die Zeichner von Charlie Hebdo haben stellvertretend die Werte verteidigt, für die ich einstehe, auch wenn nicht jede Karikatur über jeden Zweifel erhaben ist.
Zum zweiten Punkt:
Zur Pressefreiheit gehört selbstvertändlich, dass jede Zeitung selber entscheiden muss, wie weit sie diese zu verteidigen bereit ist. Und hier ist ja auch noch ein Unterschied zu machen zwischen einer Satirezeitschrift und einer anderen Publikation. Und selbstverständlich ist die Meinung korrekt, dass es kein uneingeschränktes Recht gibt. Ich selber würde als Verantwortliche wohl in diesem Sinne entscheiden und auf den Abdruck einer "Gefühle verletzenden" Karikatur verzichten.
Aber geht es hier tatsächlich um Meinungsfreiheit? Geht es hier tatsächlich um Ethik, oder um die viel zitierte Verantwortung gegenüber der Freiheit? Oder geht es nicht doch eher um Selbstschutz? Was ja auch vollkommen legitim ist. Nur soll man dazu stehen und es auch so benennen.
Zum dritten und entscheidenden Punkt:
Verletzt die Respektlosigkeit einer Karikatur die religiösen Gefühle - in diesem Fall die Muslime? Viele islamische Stimmen bestreiten das. Dazu als Beispiel unten angefügt ein Interview mit dem Islamwissenschafter Muhammad Murtaza.
Als offener, toleranter Mensch, der Andersdenkende und Andersgläubige respektiert, neigt man sehr schnell dazu, aus empathischen Gründen alles zu (selbst)zensurieren, was nicht korrekt oder was verletzend sein könnte. Das ist grundsätzlich richtig. Aber ist es auch in jedem Fall angebracht?
Oft wird hier als Argument für die zerstörerische Kraft der Satire das Beispiel mit den Nazi-Karikaturen über die Juden genannt. Nur war das eben gerade nicht Satire, sondern humorlose, hinterhältig-böswillige politische Propaganda, gesteuert von einem mächtigen Propagandaapparat, der jede Satire als Hochverrat mit Folter und Tod bestraft hätte, wie das heute in Saudiarabien gerade passiert. Entscheidend sind der Absender und seine Motivation. Die Nazipropaganda mit den Karikaturen von Charlie Hebdo zu vergleichen ist nicht zulässig.
Und Charlie Hebdo hat auch nichts mit den SVP-Plakaten zu tun, die mir zutiefst zuwider sind, weil dahinter ebenfalls Propaganda, resp. die politische Absicht steckt, andere lächerlich zu machen und/oder eine ideologische Botschaft zu transportieren. 
Ich glaube, wir machen einen grossen Denkfehler, wenn wir vor lauter political correctness unsere eigenen Werte und Überzeugungen zurückstellen. Religiöse Gefühle hin oder her. Wir sind aufgeklärte Menschen, und als solche haben wir gelernt zu unterscheiden.
Meine provokative Frage dazu: Warum sollen religiöse Gefühle mehr wert sein als andere? Meine Gefühle sind nicht religiös, sind sie deshalb weniger tief? Oder weniger zu respektieren? Grund verletzt zu sein, hätte ich ebenfalls täglich, allein schon aufgrund der Tatsache, dass ich eine Frau bin. Oder weil ich pensioniert und der Gesellschaft nicht mehr nützlich bin, resp. zu viel koste, zu viel Platz brauche, ein Demografieproblem darstelle und, und…
Ich kann keinen Gott ins Feld führen, aber die Überzeugung, dass Freiheit unter anderem bedeutet, andere Meinungen auszuhalten. Sie bedeutet auch, Satire auszuhalten, selbst dann, wenn ich mich daran störe. Und wenn sie mir tatsächlich zu weit geht, habe ich immer noch die Möglichkeit, strafrechtlich dagegen vorzugehen.
Wenn Moslems wegen Karikaturen auf die Strasse gehen, dann hat das nichts mit ihrem Glauben zu tun, sondern mit der Instrumentalisierung ihres Glaubens für politische Zwecke. Die Ursachen des Rekrutierungserfolgs in Europa für den Djihadismus sind nicht die verletzten Gefühle der Moslems, resp. dieser jungen Leute. Es sind zum Beispiel die katastrophalen Banlieu-Verhältnisse in Frankreich. Oder die Gewaltpropaganda im Internet. Oder die feudalistischen Herrschaftsstrukturen in gewissen islamischen Staaten. Oder westliche Regierungen, die mit ihnen Geschäfte machen. Oder Machthaber, denen der Djihadismus gelegen kommt. Oder Rechtspopulisten, die dafür sorgen, dass Muslime bei uns ausgegrenzt werden.
Dies und noch viel mehr hat Charlie Hebdo zum Thema gemacht. Danken wir ihnen dafür. Danken wir ihnen für den Mut weiterzumachen.
Um auf meine anfängliche Frage zurück zu kommen. Darf Satire alles? Sie darf, aber sie muss nicht. Die Verantwortung, was wir daraus machen, liegt bei uns.
Und hier noch die versprochene, resp. zwei islamische Stimmen:

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-01/islam-reform-dialog
http://www.zeit.de/2015/03/anschlag-paris-muslime-gegenwehr?

Donnerstag, 8. Januar 2015

JeSuisCharlie

Ich war gestern an der Kundgebung auf dem Bürkliplatz. Es kamen meiner Ansicht nach enttäuschend wenig  (im Gegensatz zu Istanbul, wo tausende auf die Strasse gingen).
Für mich war es ein zwingendes Bedürfnis, meinem Entsetzen, meiner Solidarität, meiner Empörung und meiner Besorgnis Ausdruck zu verleihen. Denn der Anschlag war nicht nur ein barbarischer, verabscheuungswürdiger Mord, sondern auch ein Anschlag auf unsere Freiheit, auf unsere Werte, auf unsere Demokratie, auf unsere Kultur. Und es war auch ein Anschlag auf die überwältigende Mehrheit der Muslime, welche den Terror genauso verurteilen wie wir.
Ich bin - im Gegensatz zu manchen Kommentatoren - der Meinung: Satire darf alles.  (Nicht zuletzt die Morde in Paris zwingen mich zu dieser radikalen Aussage.) Denn Satire verkörpert sozusagen die Meinungsfreiheit und die Freiheit des Denkes. Man mag in einzelnen Fällen darüber streiten, ob sie gut oder schlecht gemacht ist, das ist eine Frage des persönlichen Geschmacks. Aber grundsätzlich ist die Satire dazu da, alles in Frage zu stellen.
Denn darum geht es. Es geht um die Werte der Freiheit. Und wenn wir diese verteidigen wollen, dann dürfen wir das wiederum nur mit den Werten der Freiheit tun, d.h. wir dürfen uns nicht vereinnahmen lassen, weder vom Hass auf der einen noch von der Fremdenfeindlichkeit auf der andern Seite.
Ich bin besorgt, dass Hass und Fremdenfeindlichkeit jetzt noch mehr zunehmen werden. Denn "anti-islamische Gruppen wie Pegida helfen mit, die Emotionen zwischen den zwei größten Religionen der Welt hochzuschaukeln. Und machen sich damit zum nützlichen Idioten der Terroristen des IS und Al Qaida's", wie Jürgen Todenhöfer schreibt.
Das gilt übrigens auch für einzelne Vertreter der SVP. NR Wobmann verlangt bereits, keine Muslime mehr ins Land zu lassen.
Meine Besorgnis schon seit langem: Die nationalkonservative rechtspopulistische Rhetorik ist ebenfalls ein Angriff auf die Werte der Freiheit und Demokratie. Sie ist nicht grausam, dafür perfid. Weil viele sich zu wenig bewusst sind, wie sehr die so genannten "Ängste der Menschen" geschürt und instrumentalisiert werden können, womöglich so lange, bis ein Klima der Ausgrenzung geschaffen ist, wie es schon einmal da war, unter anderen Vorzeichen, bis genau das eintrifft, was niemand will, selbst diejenigen nicht, die es schüren.
Ich kann nur dagegen anschreiben.