Freitag, 23. Oktober 2009

Im Zug

Ich liebe es, im Zug zu reisen. Er bringt mich an mein Ziel, während ich lesen, schreiben, mich mit jemandem unterhalten oder in Gedanken versunken in die vorbeirasende Gegend blicken kann – umgekehrt natürlich, der Zug rast, die Gegend steht still, Einstein lässt grüssen. Und nicht zuletzt mag ich das Zugreisen, weil ich mich jedes Mal auf neue Überraschungen gefasst machen muss, die mich herausfordern, meine Toleranz und manchmal auch meine geistige Flexibilität auf die Probe stellen.

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Jemand hat mir mal gesagt, dass er nicht gerne im Ruhewagen reise, weil man dort gleich böse Blicke zugeworfen bekomme, wenn mal das Handy klingle. Er hatte natürlich Recht. Hugo Loetscher kommt mir in den Sinn, der diese schweizerische Kleinkariertheit im «Waschküchenschlüssel» so wunderbar sarkastisch auf den Punkt gebracht hat. Aber, um ganz ehrlich zu sein, ich mag es auch nicht, wenn ich extra in den Ruhewagen gehe, um ungestört zu lesen, und muss dann unfreiwillig mithören, wie sich das Rentner-Ehepaar nebenan gegenseitig die Aussicht kommentiert, oder was die beiden alten Damen im nächsten Abteil alles über ihre Enkel und ihre zahlreichen anderen Familienangehören zu erzählen haben. Dann bin ich ganz froh über einen dieser Spiessbürger, der diesen Fahrgästen sagt, dass sie stören, und dass es für sie neben diesem einzigen Ruheabteil in der gesamten Zugskomposition doch noch ganz viele andere Wagen mit Sitzgelegenheiten gibt. Selber würde ich so etwas natürlich nie tun. Man ist ja nicht so.

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Als ich mal im Cisalpino durch den Gotthard fuhr, ist der Zug prompt im Tunnel stecken geblieben. Weil ich beinahe damit gerechnet und meine Reise in Etappen geplant hatte, blieb mir der Stress erspart, mit dem die amerikanische Familie – vermutlich Grossmutter, Mutter und zwei Töchter samt vier überdimensionierten Koffern – durch die dichtgedrängte Menge im Mailänder Bahnhof auf den nebenstehenden Perron hetzte, wo der Zug nach Rom vermutlich längst abgefahren war. Ich schaue ihnen nach, im Ohr Mani Matters «Lied vo de Bahnhöf», worin Inhalt, Sprache und Melodie so genial zusammenfliessen, dass man die Wartenden und die an ihnen vorbeifahrenden Züge im Kopfkino sehen und hören kann. 

Für mich ging das Zugsabenteuer am nächsten Tag weiter, als wir etwa anderthalb Stunden im Nirgendwo stecken geblieben sind und niemand wusste, warum und für wie lange. Auch die Zugbegleiter nicht. Zum Glück hatte ich vor, eine Nacht in Triest zu bleiben und erst am nächsten Tag mit dem Bus nach Rijeka weiterzureisen. Somit konnte ich mich genüsslich zurücklehnen, das Ärgern den Andern überlassen und in der «Geschichte von Liebe und Finsternis» weiterlesen, diesen wunderbar geschriebenen, voller Wärme erzählten, traurigen und doch so tröstlichen Kindheitserinnerungen von Amos Oz. 

Auf der Rückreise blieb die Aufregung auch mir nicht mehr erspart. Im Regionalzug von Triest nach Venedig meldete die Lautsprecherstimme kurz vor der Abfahrt, nur validierte Tickets seien gültig, wer ohne abgestempelte Fahrkarte reise, riskiere eine Busse. Mit halbem Ohr hörte ich etwas von 200 Euro und schoss elektrisiert auf, überliess meine Koffer ihrem Schicksal, stieg aus dem Zug und rannte vom Wagen gleich hinter der Lok den ganzen Zug entlang zurück zum Kopf des Perrons, wo der kleine gelbe Kasten stand, in den ich mein Ticket steckte, wie ich es von Frankreich her kenne. Mit der gestempelten Fahrkarte raste ich die ganze Strecke wieder zurück und kam gerade noch rechtzeitig bei meinem Wagen an, bevor der Zug sich in Bewegung setzte.

Als der Schaffner kurz danach die Billette kontrollierte, hielt ihm der Mann im Abteil nebenan, ein eleganter junger Italiener, wahrscheinlich geschäftlich unterwegs, den Bildschirm seines Laptops hin und sagte, er habe das Ticket per Internet gekauft, somit könne er es nicht abstempeln. Doch der Schaffner liess dieses doch einigermassen plausible Argument nicht gelten. Es entwickelte sich eine lange Diskussion, in die sich noch andere einmischten, aber der Schaffner blieb hart. Der junge Mann musste die Busse bezahlen, kündigte aber an, er werde sich bei der Direktion beschweren und das Geld zurückfordern.

In Panik geriet ich schliesslich im Trenitalia ab Venedig. Es war nach 21 Uhr und schon dunkel. In Vicenza, meinem Reiseziel an diesem Tag, wollte ich aussteigen. Nur: Die Türe liess sich nicht öffnen. Auch die Türe des nächsten Wagens nicht. In meiner Verzweiflung rief ich laut, ob mir jemand helfen könne. Eine junge Dame in einem engen, schwarzen Deux pièces und hohen Stilettos kam freundlicherweise herbeigeeilt und versuchte es nun ihrerseits, ebenfalls ohne Erfolg. Zeit zu überlegen blieb nicht, also rannte sie trippelnd durch den Wagen – ich mit Sack und Pack hinterher – zur dritten Tür, die sich schliesslich meiner erbarmte. Mit einer Riesenportion Glück konnte ich mich und meine beiden Koffer in allerletzter Sekunde heil aus dem Zug retten, während dieser bereits anfuhr; der Schaffner hatte schon zur Abfahrt gepfiffen, bevor ich ausgestiegen war. 

Gerne hätte ich meinen Aufenthalt in Vicenza um einen Tag verlängert, aber das Ticket liess sich auch unter Einsatz aller mir möglichen Argumente und Charmeattacken nicht umschreiben. Weil es in der Schweiz ausgestellt worden sei.

 

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