Sonntag, 27. Oktober 2013

Biennale: Kunst oder bloss Kunstevent?

Am Canale Grande herrscht ein Verkehr wie zu Stosszeiten am Bellevue. Die Vaporetti fahren im Minutentakt, dazwischen tummeln sich die Wassertaxis, Gondeln, Polizeiboote, Transportboote, privaten Motorboote und kleinen Ruderboote. Die Vaporetti sind gestossen voll, Touristen und Italiener teilen sich geduldig den viel zu knapp bemessenen Platz.

Nach den vollgestopften Gassen nahe des San Marco sind die Giardini eine Wohltat. Dorthin verirren sich offenbar nur noch die Kunstinteressierten, es ist weniger gedrängt und sehr angenehm unter den alten Bäumen. Vielleicht habe ich auch nur Glück und den richtigen Zeitpunkt getroffen.

Gibt es hier die Antwort auf meine Frage: Was ist Kunst? Ist die Biennale von Venedig der richtige Ort, um es herauszufinden?

Im Vorfeld lese ich ein paar einschlägige Artikel. Sie widersprechen sich. Einer übertrifft sich mit sarkastischen Bosheiten über das reiche und versnobte Publikum, das in Yachten anreist und Partys feiert, ein Anderer freut sich, dass die kauffreudigen Kunstsammler dieses Jahr den Platz den weniger Begüterten, aber wahrhaft Kunstinteressierten überlassen mussten. Einer hat sich fast nur gelangweilt, ein Anderer sieht in der diesjährigen Biennale eine mögliche Revolution zugunsten der wahren Kunst. Und weil einer schreibt, man solle sich nicht um das «Kuratorengeschwafel» scheren, leiste ich mir die Freiheit, mich nicht um das «Kritikergeschwafel» zu scheren und mir mein Urteil selber zu bilden.

Die Länderpavillons haben einen schlechten Ruf, aber sie sind der leichteste Einstieg. Über Valentin Carrons Schlange wurde viel geschrieben. Nur Gescheites natürlich. Trotzdem lässt mich seine Kunst in der kühl-sachlichen Architektur des Schweizer Pavillons ratlos zurück. «Leblos» fällt mir dazu nur ein.

Ich hatte mir vorgenommen, nichts auszulassen, obwohl mir immer deutlicher klar wird, dass drei Tage dazu niemals ausreichen. Also scheide ich schon mal diejenigen aus, vor denen sich Schlangen bilden. Darunter der Pavillon der USA. Ein Blick durchs Fenster genügt mir, um zu wissen, dass Sarah Sze’s Kunst mich nicht sonderlich anspricht. Jedenfalls nicht das, was ich sehe. Zu wild, zu sehr ein Durcheinander.

Im russischen Pavillon stelle ich fest, dass mir auch die bedeutungsschwangere Kunst, die mir mit dem Holzhammer beibringen will, wie es um unsere Welt steht, eher auf den Geist geht, während das deutsche Ehepaar neben mir grossen Gefallen daran findet und sich im Übrigen beklagt, dass dieses Jahr zu wenig Sozialkritisches gezeigt werde. Im Laufe der zwei Tage gibt es aber dann doch noch ein paar Beispiele politischer Kunst, welche mich im Innersten treffen.

Gespannt bin ich auf einen der Wichtigen der diesjährigen Biennale, auf Ai Wei Wei, zu sehen im französischen Pavillon. Die aufgehängten, den ganzen Raum füllenden antiken Hocker Ai Wei Weis erinnern mich an eine DNS, die farbigen Plastikhocker dazwischen könnten als Krankheitskeime der Zukunft gedacht sein. Aber das ist nur meine ziemlich naive Interpretation angesichts einer Installation, die mich nicht sonderlich berührt.

Im venezianischen Pavillon erschliesst sich mir wenigstens ansatzweise das Thema der diesjährigen Biennale: Im ersten Raum alte venezianische Stoffkunst, im folgenden dekorative Stoffkunst der Gegenwart. «Il Palazzo enciclopedico» – Museum des Weltwissens – heisst denn auch das Werk, das der Biennale 2013 den Namen geliehen hat. Das Werk ist von Marino Auriti (1891 bis 1980), einem Autodidakten, der nie berühmt geworden ist.

Besinnung auf Vergangenes, wahrscheinlich auch Besinnung auf Wahrhaftiges, scheint das Anliegen des diesjährigen Biennale-Kurators Massimiliano Gioni zu sein, den nach eigenen Aussagen vor allem interessiert, was er nicht enträtseln kann. Von den rund 160 Künstlern sind mehr als ein Viertel bereits gestorben. Und so findet man denn auch wenige Künstlerinnen oder Künstler, die gerade besonders in Mode sind.

Zu meinen Favoriten gehört im italienischen Pavillon die gut zwei Meter hohe, leicht schräg gestellte Metallplatte, auf die ein steter Wassertropfen fällt. Man steht im Dunkeln davor und hört den monotonen, metallischen Klang des Tropfens, eine von der Decke hängende Glühbirne beleuchtet die Stelle, wo der Tropfen auftrifft, und man ahnt, wie der nach unten wachsende, ovale Korrosionsfleck mit der Zeit immer grösser wird, wie sich das   weiche Wasser unaufhaltsam ins harte Material frisst, es dabei verändert, dessen Farbe, dessen Konsistenz, und es schliesslich zerstört. (Ja, klar, nichts Neues, steter Tropfen höhlt den Stein, oder der Zahn der Zeit, Redensarten mit all ihren möglichen nachvollziehbaren Interpretationen. Enträtselbar. Aber genial umgesetzt.)

Ich lasse mich treiben und bleibe hängen, wo mich etwas festhält, sei es, weil es mir einfach so gefällt, rein optisch, sei es, weil es mich fasziniert, mich überrascht, mich zu Nachdenken bringt, mich ärgert oder mich erstaunt. Irene hat gesagt, Kunst werde vermutlich erst dann zur Kunst, wenn jemand sie betrachte. Vielleicht DAS Geheimnis.

Urs Widmer hat gesagt, wenn ein Buch gelesen werde, würden daraus zwei. Genauso ist es. Es ist jedes Mal ein anderes Buch, je nachdem, wer es liest, und sogar je nachdem, wann – in welchem Alter, mit welchem Wissen, mit welcher Erfahrung, in welcher Stimmung – dieser Jemand es liest.

So ist es wohl auch mit der bildenden Kunst. Und mit der Musik. Entscheidend ist, was die Kunst mit uns macht, was wir darin sehen, lesen oder hören. Und deshalb bedeutet Kunst für jeden etwas Anderes.

Mit dieser Einsicht gehe ich weiter, sehe mich um, im zentralen Gebäude in den Giardini, am nächsten Tag im Arsenale. Ohne Eile und ohne den Druck, etwas zu verpassen.

Um auf meine anfängliche Frage «Was ist Kunst?» zurück zu kommen: Eine endgültige Antwort darauf finde ich nicht, weil es sie nicht gibt.

Aber die Biennale ist zweifellos ein geeigneter Ort, sich darüber Gedanken zu machen.

*

Am dritten Tag mag ich keine Kunst mehr sehen. Auch keine Menschenmassen mehr. Ich löse mich vom Gedanken, weitere Kunstschauplätze in der Stadt zu besuchen, stattdessen lasse ich mich durch die unbelebteren Hintergassen Venedigs treiben, suche Schauplätze auf, wo Donna Leons Commissario Brunetti seine Fälle löst, und verlaufe mich dabei ein paar Mal hoffnungslos. Aber ein Ausgang findet sich immer, ich kann mich durchfragen, die Stadt ist nicht sehr gross, deshalb mache ich mir keine Sorgen und geniesse es, weg vom touristischen ein bisschen das authentische venezianische Leben zu entdecken. Zum Beispiel im winzigen Laden mit den alten Postkarten, wo ich mich lange mit dem Inhaber unterhalte und erfahre, dass er bald aufhören wird, weil niemand mehr Postkarten verschickt. Wovon er danach leben soll, weiss er noch nicht.

*

Das andere, das touristische Venedig, quillt über, praktisch in jeder Jahreszeit, entsprechend wenig Bewegungsfreiheit gibt es überall da, wo die tägliche Schar abertausender Besucherinnen und Besucher durchgeschleust wird. Und doch: Bei allem Gedränge bleibt diese Stadt eine der faszinierendsten Destinationen auf dieser Welt. Sowohl die Biennale mit ihrer kreativen Energie als auch die Stadt in ihrer unvergleichlichen Schönheit sind einzigartig. Ich erlebe hier immer wieder Momente des Glücks und geniesse sie mit Freude und Lust, genauso wie die Tramezzini, den Wein und den guten Fisch.

 

***

 

Nachtrag: 2020 ist Venedig eine andere Stadt. Sie gehört den Einwohnern, das Wasser in den Kanälen ist so klar wie seit Jahrzehnten nicht mehr, die surrealen Kreuzfahrtschiffe sind stillgelegt. Corona hat der Stadt und der Natur eine Verschnaufpause gegönnt. Wenn wir Glück haben, werden neue Erkenntnisse aus der Wissenschaft, kluge Innovationen aus der Wirtschaft, nötige Einsichten und entsprechendes Handeln aus der Politik und – last but not least – vernünftiges Masshalten der Bevölkerung die Entwicklung in eine positive Richtung lenken.

 

Ich denke: Die Menschen werden zurückkehren und weitermachen wie bisher.

 

Aber wer weiss schon, was wird?

 

 

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