Freitag, 14. September 2012

Wir alle sind Doppelmoralisten

Kürzlich hat sich Markus Gisler in der AZ über die Doppelmoral der Amerikaner ausgelassen, die den „Verräter“ Bradley Birkenfeld per Gerichtsurteil zum Millionär machte, (wenn er es nicht schon war, denn „Wer da hat, dem wird gegeben“, nicht wahr..?).
Wir empören uns: über die ganz grossen und die kleinen „Ungerechtigkeiten“, manchmal zu Unrecht über bloss vermeintliche Skandale und manchmal zu Recht über unfassbare Dinge, wie zum Beispiel die religiös motivierte Gewalt. Rollt die Welle der Empörung an, sind wir alle irgendwie mittendrin, die einen am Stammtisch, die andern zu Hause am Familientisch oder allein vor dem Fernseher, unter Kollegen bei der Arbeit und ganz besonders und vor allem in den Social Media. Einen Tag lang flattern dann die Twitter wie aufgeschreckte Hühner im Stall herum, bis sich die Aufregung legt, so lange, bis das nächste Skandälchen wieder etwas Leben in die Bude bringt.
Ich empöre mich auch - manchmal völlig unnötigerweise, manchmal zu Recht. Und dann ärgere ich mich über all diese Doppelmoralisten, die ihren Senf dazu geben. Und vor allem ärgere ich mich über mich, weil ich genauso dazu gehöre. Wie gerade jetzt. Denn ich schreibe ja nicht, weil ich gerade nichts anderes zu tun habe, ich schreibe es auf, weil ich meine Meinung kund tun will. Irgendwie. Obwohl mir vollkommen bewusst ist, dass im Grunde genommen niemand auf meine Meinung gewartet hat. Oder vielleicht gerade deshalb? Legitimiere ich meine virtuelle Existenz, indem ich mich immer wieder mal bemerkbar mache?
Es wäre zutiefst beunruhigend, wenn Menschen sich nicht über die Ungerechtigkeit empörten. Das würde bedeuten, dass es keine Empathie gäbe. Doch es gibt die Empathie, wissenschaftlich erwiesen, also kann man davon ausgehen, dass die Empörung in den meisten Fällen echt ist. Im Moment. Aber wenn die Empörung nur so lange dauert, bis sie getwittert ist, dann ist das eben keine Empörung, dann ist das bloss das übliche „Dampf ablassen“. Sozusagen die tägliche Seelenhygiene. Oder das Buhlen um Aufmerksamkeit. Oder ein Spiel, ein durchaus lustvolles manchmal, wie ich zugeben muss.

Um auf den Ärger von Markus Gisler zurück zu kommen: Er wirft der amerikanischen Justizbehörde vor, sie setze ein falsches Signal. Wenn der Staat schon ein solches Unrecht begehe, weil es ihm nütze, dann werde auch jeder Bürger und jede Bürgerin genau so handeln, nach dem Prinzip, „erst mein Vorteil, dann die Moral“. Ja, sagen Sie mal, Herr Gisler, ist es denn irgendwo auf der Welt anders?? „Der Staat“, resp. seine Vertreter, handeln Verträge aus, die dem „Staat“ nützen, Unternehmen, resp. deren Vertreter, planen, was dem Unternehmen nützt, die „Kirchen“ behaupten im Namen ihrer Religionen, was ihnen nützt, Parteivertreter erzählen, was der Partei nützt, usw. Die Menschen machen (und glauben), was ihnen nützt - (mal abgesehen von den wenigen wahrhaften Altruisten, die nie zuerst an sich denken.) Beinahe alles, was wir tun, geht auf Kosten von irgend jemand oder irgend etwas Anderem. Also sind wir alle irgendwie Doppelmoralisten.
Wo zu also die Empörung? Ich denke schon, dass sie wichtig ist. Ihr Gegenteil wäre die Gleichgültigkeit, und die wäre noch fataler. Das Problem ist nur, dass Empörung allein noch keine Wirkung hat. Auch nicht die getwitterte. Trotzdem ist das „Dampf ablassen“ manchmal richtig. Es zeigt uns, dass wir mit unserer Empörung nicht allein sind.
A propos. Ich empöre mich gerade über diesen scheissdummen Film, über die Tatsache, dass ein koptischer Christ, offenbar ein Ägypter, sich als Jude ausgibt, um noch ein bisschen zusätzlich zu schüren, über die Tatsache, dass auch ein evangelikaler Pastor mitgemischt hat - auch wenn es mich nicht erstaunt... Aber ich empöre mich auch über diese unsäglichen religiösen Fanatiker, die jetzt dieses schmierige Filmchen zum Anlass nehmen, einen Flächenbrand in Gang zu setzen. Und ich empöre mich darüber, dass sich viel zu wenig auch darüber empören. Und ich empöre mich darüber, dass man nicht darüber sprechen kann, dass die Welt ohne Religion wahrscheinlich besser würde.

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