Dienstag, 11. September 2012

Bloss eine Frage des Alters?

Ich mag keinen Lärm. Schon als Kind nicht. Wenn es mir zu bunt wurde, flüchtete ich auf die Treppe des Hühnerstalls, wo mich niemand störte. Als Teenager liebte ich die Beatles und die Rolling stones - ja, beide -, aber damals ging es auch noch um Musik, und man drehte die Bässe noch nicht so auf, bis die Gedärme zittern.
Ich weiss nicht, wie das Andern geht. Ich hasse diese lauten Bässe. Ich werde wütend, wenn ein selbstverliebter Gockel mit geöffnetem Fenster und aufgestützten Ellbogen im Auto heranfährt und ich die Bässe kilometerlang vorher schon hören muss - unfreiwillig, versteht sich. Die Bässe schlagen gegen meinen Herzrhythmus, sie stören meinen Lebensfluss, irritieren mich, besonders nachts, sie machen mich irgendwie krank. Merke nur ich das?
In letzter Zeit macht sich ein neuer Trend bemerkbar: Junge Leute ziehen ihre riesigen Verstärker auf Rädern wie einen Rollkoffer hinter sich nach. Dazu lassen sie ihre für meine Ohren ziemlich einfältige Pum-pum-Musik auf voller Lautstärke dröhnen - auch nachts. Ich finde das, gelinde gesagt, eine Zumutung. Bin ich die Einzige? Bin ich bloss zu alt, die Jugend zu verstehen?
Bin ich die Einzige, die manchmal denkt, dass viele Jugendliche in der Schweiz verwöhnt sind und nicht mehr gelernt haben, Rücksicht auf die übrigen Mitglieder der Gesellschaft zu nehmen? In Bern demonstrieren junge Leute für mehr Partyräume. Ist das zu fassen? Ist denn ihr Leben so armselig geworden? Haben sie nichts anderes mehr, wofür sie sie sich einsetzen können?
Zugegeben, meine Generation war wohl die glücklichste aller Zeiten. Als wir jung waren, dachten wir, wir könnten die Welt verändern. Wir gingen auf die Strasse, politisierten für eine bessere Welt - selbstverständlich, was wir darunter verstanden. Wir waren wild und unsere Rebellion schoss häufig übers Ziel hinaus, aber wir nahmen teil, engagierten uns und fühlten als wichtige Mitglieder der Gesellschaft. Unsere Motivation, auf die Strasse zu gehen, war eine ganz Andere als heute. Besonders von uns Frauen. Aufgewachsen sind wir häufig in Elternhäusern, wo vor allem Verbote herrschten, in einer Gesellschaft, wo tradierte Wertvorstellungen galten mit klaren Rollenverteilungen. Die Freiheit, die heute so selbstverständlich ist, mussten wir uns erst erkämpfen. Eine gesellschaftliche Freiheit, deren Wert und Bedeutung viele junge Menschen heute kaum noch erahnen.
Es ist nicht die Schuld der jungen Menschen, die denken, sie hätten das Recht, sich alles zu erlauben. Es ist die Schuld der Eltern, die keine Grenzen mehr setzen. Und ein bisschen ist es auch die Schuld meiner Generation, die ihre Kinder zu solchen Eltern erzogen hat. Zu egoistischen Eltern, die sich nur noch um das individuelle Fortkommen und nicht um ihre Verantwortung in der Gesellschaft kümmern. Woher sollten es ihre Kinder lernen?
Wenn ich lese, wie viele Schüler in Deutschland heute glauben, unter Hitler sei Deutschland eine Demokratie gewesen, wenn ich lese, dass in islamischen Ländern Hitler als grosser Staatsmann verehrt wird und wenn ich an die rassistischen Entgleisungen von SVP-Mitgliedern denke, erschrecke ich. Wenn im Zeitalter der überall zugänglichen Informationen das allgemeine Wissen derart dramatisch abnimmt, bekomme ich Angst. Es gäbe so viel, wofür sich die jungen Menschen heute einsetzen könnten, nicht nur in den Nahost-Staaten, wo die ersten zaghaften Versuche für eine demokratischere Gesellschaft schon wieder zu scheitern drohen.
Es ist eine banale Tatsache: Die eigene Freiheit darf nur soweit gehen, als sie die Freiheit des Andern nicht einschränkt. Eine Gesellschaft braucht eine kritische Jugend, die sich für ihre Anliegen einsetzt. Aber nicht für Partys. Oder für Botellóns.
Und jetzt bin ich wieder beim Lärm. Muss es wirklich immer so laut sein? Ist meine Überempfindlichkeit auf unnötigen Lärm, den ich als Respektlosigkeit mir gegenüber empfinde - mir und allen andern, die den Lärm auch nicht mögen -, ist das bloss eine Frage des Alters?

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